Wie oft hat vor Jahren meine Familie unserer Oma erklärt, ja gar befohlen, im Winter bei Schnee und Glätte nicht früh zur gewohnten Zeit im Dunkeln die Hühner zu füttern, sondern zu warten, oder im Hochsommer nicht in der Mittagshitze im Garten zu arbeiten. Und dennoch hat sie es immer wieder getan, trotz Mahnens, Meckerns und Schimpfens – und sie hat all das noch um mehrere Jahre überlebt.

An anderen Stellen aber ließ sie sich durch Drohungen und wiederholte Angstszenarien von anderen Handlungen abhalten. Doch schon damals empfand ich es entwürdigend, einen erwachsenen, vernunftbegabten Menschen durch Angst zu kontrollieren. Sie sollte doch die Freiheit haben, selbst zu entscheiden, wie sie mit dem Risiko umgeht. Aber vielleicht kam da der Wechsel der Verantwortung hinzu, so ein kleines Stückchen von Entmündigung, dass wir eben glaubten, unsere Oma sei nicht (mehr) in der Verfassung, die Situation einzuschätzen, und wir sie deshalb beschützen müssten – so wie eben Eltern Kinder beschützen, müssen ab einem bestimmten Alter (oder doch eher geistigem Zustand?) Kinder die Eltern beschützen.

Wenn Eltern ein Kind beschützen wollen, griffen sie (und greifen auch noch) zum Mittel der Angst: Man denke an den Weihnachtsmann mit seiner Rute oder Heinrich Hoffmann mit seinen Schilderungen vom Suppen-Kaspar, vom Daumenlutscher oder dem Zappel-Phillipp. Zu einer unerwünschten Handlung wird ein schreckliches Bedrohungsszenario entworfen. Dem Kind fehlt meist das Wissen darüber, wie realistisch diese Bedrohung ist und der Autorität folgend, gehorcht es. Dieses Mittel ist wirksam, aber dennoch ist es in der heutigen Zeit kein gern gesehener Erziehungsstil mehr.

Bei einem Kind mag man auch in der einen oder anderen Weise zu solch einem Mittel greifen, wenn es denn nicht »hören« oder besser ausgedrückt verstehen will. Für manche Einsicht sind Erfahrungen und Wissen notwendig, die ein Kind naturgegeben oft noch nicht hat – oder die ein dementer Mensch verloren hat. Aber bei einem erwachsenen, geistig wachen Menschen hat diese Einschüchterungstaktik zu seinem Schutz recht befremdlich. Es wirkt entwürdigend, wenn man plötzlich Widerwillen beschützt wird, wenn man sich für geistig rege hält, aber nicht versteht, warum man beschützt werden soll.

Das Verständnis für die Bedrohung ist bei der Corona-Krise schwer, da sie nicht sichtbar, nicht erfahrbar ist. Es gibt keine Flugzeuge am Himmel wie im Krieg oder Berichte von Bekannten über die Erlebnisse. Es ist eine abstrakte Bedrohung aufgrund von Medienberichten und Fernsehbildern – ähnlich der Finanzkrise 2007/08, von der man auf der Straße nichts gespürt hat, nur irgendwo im fernen New York und Frankfurt war es für wenige Leute bei den Banken spürbar.

Bei der Corona-Krise kommt erschwerend noch hinzu, dass vor der Krise gegenteilige Meinungen und Prognosen in den Medien zu hören waren und das Handeln in sich nicht schlüssig ist – erst so, dann so. Einem wissenden Menschen fällt es schwer, in dieser Gemengelage die Schutzbedürftigkeit zu erkennen.

Die gegenwärtigen Schutzmaßnahmen wirken auch etwas befremdlich, weil Schutz im Allgemeinen etwas mit Nähe zu tun hat: »man stellt sich zum Schutz vor jemanden« oder »hält die schützende Hand über ihm«. Aber die jetzigen Maßnahmen sind eher ein Anti-Schutz, weil sie die Menschen trennen.

Eine solche Form des Schutzes kennt man von Verbrechern, die zum Schutz der Öffentlichkeit eingesperrt werden, oder schwer psychisch erkrankten Menschen, die zu ihrem Wohl in eine geschlossene Einrichtung kommen.

Am Ende steht denn auch die Frage – selbst wenn man die Schutzwürdigkeit erkennt –, ob man auch beschützt werden will. Es ist die Frage, die ich bereits bei den Schilderungen über meine Oma aufgeworfen habe: Hat man die Freiheit der Entscheidung, den Schutz anzunehmen. Wenn ein erwachsener Mensch nach Schutz sucht, sich schutzbedürftig fühlt, dann ist er auch bereit, diesen anzunehmen. Aber dann geht die Handlung von ihm aus – ihm wird nicht der Schutz verschrieben.

Für die Frage der Selbstbestimmung ist eben eine Risikoabwägung

Rechtlich gibt es in Deutschland keinen Rettungszwang. Nach Expertenmeinung könnte ein Rettungszwang im Gegensatz zum ersten Artikel des Grundgesetzes stehen, da Zwang die Würde und Selbstbestimmung von Personen einschränken kann.

Einen unschönen Beigeschmack bekommt die auferlegte

Jedoch, sie ist wirksam. Und dort, wo sie nicht wirkt, greift man zum Mittel des sozialen Drucks: »Du kannst doch nicht wollen, dass Deinetwegen jemand anderes nicht versorgt werden kann, ja gar sterben muss.«

Ist der Zustand der von außen verordneten Schutzbedürftig eine Frage des Alters oder des geistigen Zustands?

Und jetzt, jetzt haben wir Schutzmaßnahmen flächendeckend. Jetzt müssen alte und junge Menschen daheim bleiben und dürfen keinen Besuch empfangen, weil laut Statistik das Risiko zu hoch ist. Meist wird das ganze noch mit dem Verweis auf zu wenige ITS-Betten verbunden, denn wenn man gerettet werden muss, weil man leichtsinnig war, nimmt man anderen ihr Bett weg.

XXX

Das Abstandhalten beispielsweise widerspricht den Grundbedürfnissen des Menschen als soziales Wesen. Gleichzeitig glauben Menschen nicht, dass sie von ihren Freunden und guten Bekannten infiziert werden – »Negatives kommt nicht aus unserer Nähe, sondern vor allem von anderen«.