Vorbemerkung: Dieser Text ist als Reaktion auf eine Mathematikaufgabe für meine Nachhilfeschüler entstanden.
Der Grund, weshalb die Aufgabe mit dem Würfel im OHiMi-Teil der letzten Arbeit so »schwer« war, liegt in der Psychologie. Die Aufgabe stand im Komplex der Vektorrechnung und in der Aufgabenstellung lautete es »die Vektoren«, weshalb jeder intuitiv zum Werkzeugkasten der Vektorrechnung gezogen wird, obwohl die Lösung in der elementaren Geometrie liegt.
Das Problem ist die Vorbelastung des Denkens (Priming genannt): Durch bestimmte vorausgehende Angaben oder das Umfeld der Aufgabe wird das Denken eingeschränkt und man sucht die Lösung dann nur in diesem eingegrenzten Bereich. Im Allgemeinen ist das gut und hilfreich, weil man so zielgerichtet und schneller zur Lösung kommt. Aber manchmal stört der verengte Blick. Deshalb steht diesem das berühmte »über den Tellerrand blicken« (»thinking out of the box«) gegenüber, also dass man es schafft, sich von der eingeengten Sicht zu lösen und weiter zu blicken.
An drei Aufgaben lässt sich das Phänomen schön nachvollziehen:
Du kommst in ein Badezimmer. Dort befinden sich ein Waschbecken und eine Badewanne, die mit Wasser gefüllt ist. Auf dem Boden liegt ein Sieb und in der Ecke steht ein Eimer, allerdings hat der ein kleines Loch am Boden. Wie lässt sich die Wanne am schnellsten leeren?
In einem Haus sind unter dem Dach drei Glühbirnen angebracht. Im Keller befinden sich drei Schalter für die Glühbirnen. Wie muss man vorgehen, um nur einmal den Weg vom Keller zum Dachboden zu gehen und sagen zu können, welcher Schalter zu welcher Glühbirnen gehört?
Verbinde die 9 Punkte eines 3×3-Quadrats mit vier geraden Linien, ohne den Stift abzusetzen:
(Quelle: Wikipedia)
Die Lösungen sind einfach, wenn man einmal darauf gekommen ist:
Die gesamte Beschreibung der Situation im Badezimmer mit dem Waschbecken und dem Eimer führt gedanklich in eine völlig falsche Richtung, denn die naive Lösung ist einfach: »Man zieht den Stöpsel der Wanne.«
Auf diese Lösung kommt man viel leichter, wenn man diese Runduminformationen weglässt und die Aufgabe einfach nur lautet: »Du kommst in ein Badezimmer. Dort befindet sich eine Badewanne, die mit Wasser gefüllt ist. Wie lässt sich die Wanne am schnellsten leeren?«
Diese Reduktion auf das Wesentliche ist in vielen Aufgaben in der Mathematik wichtig, also aus der Aufgabenstellung wirklich zu erkennen, was zur Lösung des Problems relevant ist.
Bei Schaltern und Glühbirnen denkt man sofort an ein und aus, aber kommt nur schwer auf den Gedanken, dass die Glühbirnen auch warm werden. Somit kann man nämlich den 1. Schalter betätigen, wartet ein paar Minuten und schaltet ihn wieder aus. Danach schaltet man den 2. Schalter ein und geht auf den Dachboden. Die Birne, die leuchtet, gehört zum 2. Schalter, die, die aus und warm ist, gehört zum 1. Schalter und die dritte gehört zum 3. Schalter.
Für diese Lösung muss man im wahrsten Sinne des Wortes »out of the box« denken: Man zieht einfach die Linien über das Quadrat hinaus und kann sie so verbinden. Gedanklich ist man aber in dem Quadrat gefangen und sucht nur dort nach der Lösung. Die Frage ist auch als Neun-Punkte-Problem bekannt.
(Quelle: Wikipedia)
Ein weiteres Beispiel, das unsere Vorprägung im Leben und die dadurch beeinflusste Wahrnehmung zeigt, ist das Bild »Liebesbotschaft der Delphine« von Sandro Del-Prete. Wenn wir ab einem bestimmten Alter das Bild eines Liebespaares erlernt haben, ist dieses, das erste Motiv, das uns auf der Flasche auffällt. Kinder, die dieses Motiv aber nicht kennen, entdecken auf der Flasche neun Delphine an den dunklen Stellen.
Aber nicht nur die Kunst kann uns das Problem der Voreingenommenheit vor Augen führen, auch die Sprache kann es. Im Englischen gibt es den wunderschönen Satz »Time flies like an arrow; fruit flies like a banana«, den man mehrfach lesen muss, bis man ihn wirklich versteht. Das englische Wort flies kann als fliegen und als Fliegen übersetzt werden. Der erste Teil führt für die Übersetzung des zweiten völlig in die Irre: »Zeit (ver-)fliegt wie ein Pfeil; Frucht-Fliegen mögen eine Banane«.
In der deutschen Sprache gibt es aufgrund der zusammengesetzten Wörter und der komplizierteren Grammatik nicht so viele Irrungen. Als schöne Beispiele für diesen Holzwegeffekt kenne ich bisher nur: »Modern bei dieser Bilderausstellung werden vor allem die Rahmen, denn sie sind aus Holz und im feuchten Keller gelagert worden«. Hier führt die Kombination mit Bildausstellung die Gedanken in die Irre zum Wort modern im Sinne von »der Mode folgend«, obwohl das Wort modern für verfaulendes Holz gemeint ist.
Weitere Beispiele liefert Der Standard.at mit einem wunderschönen Spiel mit der Sprache, indem er in Werbeslogans die Mehrdeutigkeit von Haltung ausnutzt:
Um ihre Haltung zu trainieren, brauchen sie keine Turnschuhe, keine Gewichte, sondern nur ihren Kopf. Üben sie zum Beispiel jeden Tag, über den Tellerrand zu schau'n. Das geht sogar im Sitzen, am besten mit dem Standard.
Aber man ist diesem Phänomen nicht hilflos ausgeliefert. Der erste Schritt ist bereits gegangen, wenn man um den Umstand weiß, dass es diesen verengten Blick gibt. Mit der Zeit lernt man auch, immer besser zu erkennen, wann man in die falsche Richtung geführt wird oder in einer gedanklichen »Box« festsitzt und wie man sich daraus befreien kann. Im Rahmen der Mathematik lässt sich sehr gut, der »Blick für kreative Lösungen außerhalb der vermeintlichen Grenzen« trainieren, und in bekannte Fallen wird man durch das Wissen um sie, nicht mehr so leicht treten.
Diese Erklärung soll also nicht als Entschuldigung dienen, bei kniffeligen Aufgaben, die Hände in den Schoß zu legen, sondern der Ansporn sein, immer mal wieder über den Tellerrand zu schauen.
Betriebsblindheit bei Experten
Bildlich dargestellt, könnte man eine hohe Spezialisierung als eine Vertiefung im Spektrum des Wissens sehen. Experten, die also tief in ein Themengebiet eintauchen, laufen Gefahr, den Weitblick zu verlieren und, so zu sagen, betriebsblind zu werden. Ein Artikel über einen Vortrag mit dem Thema »The dark side of expertise« erläutert genau diese Kehrseite der Expertise: Fachwissen kann zu Scheuklappen werden.
Aufgezeigt werden zwei Beispiele: Architekten, die von ihrem neuen Computersystem so überzeugt waren, dass sie Fehler nicht sehen »konnten«, und Feuerwehrleute, die so mit ihrer Ausrüstung »verwachsen« waren, dass sie sie bei einer Katastrophe nicht ablegen »konnten«. Es gibt immer wieder Situationen, in denen Expertenwerkzeuge nicht die besten Mittel für die Situation sind. Dies muss man erkennen und sich dann von ihnen lösen, denn die Gefahr ist groß, dass: »Wenn Du einen Hammer hast, sieht jedes Problem wie ein Nagel aus.«
In dem Artikel wird auch als Beispiel eine »optische Täuschung« gezeigt, bei der es unserem Gehirn wider besseren Wissens nicht möglich ist, das richtige zu sehen. Bei der Müller-Lyer-Täuschung sieht man scheinbar unterschiedlich lange Linien, auch wenn zuvor gezeigt wird, dass sie die gleiche Länge haben. Um solche Fehler der (menschlichen) Sensorik muss man wissen, damit man mit ihnen entsprechend umgehen kann, sollte es dazu kommen.
KI ist auch nicht besser
Beim Spie^WExperimentieren habe ich entdeckt, dass auch die künstliche Intelligenz von DeepL für Priming anfällig ist:
Im Satz »fruit flies like bananas« übersetzt die KI korrekt »Fruchtfliegen«, aber geht dem Satz »Time flies like an arrow« voran, übersetzt es den Satz mit »Früchte fliegen wie Bananen«.