In der Schule wird die Vektorrechnung als ein abstraktes Verfahren behandelt, das meist noch in den Zusammenhang mit Geometrie gebracht wird, ab viel weiter wird der Nutzen von Vektoren selten erläutert. Wenn man sich aber an der geometrischen Interpretation von Vektoren und Vektoroperationen löst, findet man viele Anwendungen im Leben, die man als Vektorsystem verstehen kann.

Die Mathematik

Vorbemerkung: Zur Vereinfachung beziehe ich mich im Folgenden auf dreidimensionale Räume, aber die Gedanken lassen sich auch leicht auf zwei oder mehr als drei Dimensionen übertragen.

Bei der Vektorrechnung nutzt man Vektoren – häufig als Pfeile dargestellt –, um die Punkte in einem Raum zu beschreiben. Der einfachste Fall mit x-, y- und z-Richtung beschreibt einen Ort (a, b, c) im Raum durch die Kombination aus den Vektoren (1, 0, 0) für die x-Richtung, (0, 1, 0) für die y-Richtung und (0, 0, 1) für die z-Richtung.

(a,b,c)=a·(1,0,0)+b·(0,1,0)+c·(0,0,1)

Die Punkte eines Raumes lassen sich also durch ihre Anteile der Basisvektoren beschreiben. Der Gehalt dieses Satzes mag sich jetzt noch nicht erschließen, aber in den folgenden Beispielen komme ich darauf zurück und zeige die praktische Bedeutung.

Einen Punkt mit a· v1 +b· v2 +c· v3 zu beschreiben, erscheint umständlicher als die kompakte Schreibweise (a,b,c) . Aber genau dies verbirgt sich hinter der Koordinatenschreibweise und ist die Definition einer Koordinate. Zur Reduktion des Schreibaufwands und zur Verbesserung der Übersicht hat man sich auf die kompakte Form geeinigt.

Begrenzt man zur Veranschaulichung den Raum auf den Bereich 100×100×100, so enthält dieser 100⋅100⋅100 Punkte. Um ein Verzeichnis dieser Punkte anzulegen, bräuchte man also 1 Million Namen für diese Punkte, um zum Beispiel sagen zu können »Alpharigo ist 5 Einheiten vom Ursprung entfernt« oder »Thetazi ist Spiegelpunkt von Rhomophi« Mit der Beschreibung durch Komponenten hingegen braucht man nur drei Zahlen: »(3, 0, 4) ist 5 Einheiten vom Ursprung entfernt«. Die Koordinatenschreibweise vereinfacht die Arbeit.

Die Kernidee der Vektorrechnung ist also, die Arbeit durch die Zerlegung in standardisierte Teile zu vereinfachen. Für die reale Welt könnte man es wie folgt beschreiben: Man zerlegt ein Problem in Teilprobleme oder ein Objekt in Bestandteile und beschreibt es durch die Häufigkeit dieser vorkommenden Bestandteile. Die Basisvektoren (1, 0, 0), (0, 1, 0) und (0, 0, 1) für die Richtungen werden auch als Standardvektoren bezeichnet, weil man sich auf diese Standardanteile für den dreidimensionalen Raum verständigt hat. Aber es sind auch andere Basisvektoren und andere Formeln möglich.

Soviel zur abstrakten Mathematik. Hier noch einmal die Kernpunkte:

Farben

Ein Beispiel für ein Vektorsystem in der Realität sind Farbsysteme. Es gibt zwar unzählige Namen für Farben, aber zur Erleichterung hat man Grundfarben gewählt, um eine Farbe als Mischung der Grundfarben zu beschreiben. Ein konkretes Farbsystem ist der RGB, das eine Farbe als die Zusammensetzung aus rot, grün und blau (Basisvektoren) beschreibt. Pink ist zum Beispiel viel rot und viel blau, aber kein grün und etwas weniger rot ergibt Violett. Statt also zu sagen »Ich möchte die Farbe … haben«, beschreibt man die Farbe mit »… Teile rot, … Teile grün und … Teile blau«, um sich nicht wahnsinnig viele Namen für jede mögliche Farbe auszudenken zu müssen.

Das RGB-Farbsystem ist verknüpft mit der additiven Farbmischung (Berechnungsformel für die Elemente), also der Überlagerung der Farbanteile zur Komposition des Ergebnisses, wobei man von Schwarz, also Nichts/Null, ausgeht. Ändert man diese Bildungsvorschrift in eine subtraktive Farbmischung und geht von einer weißen Fläche aus, so entfernt man mit (Farb-)Filtern immer einen Anteil in einer bestimmter Stärke. Dies ist das bekannte CMYK-System von Druckern, bei dem die Grundfarben Türkis (Cyan), Magenta und Gelb (Yellow) verwendet werden – zur Erleichterung für Textdruck und weil es sich auch schwer aus den Grundfarben mischen lässt, benutzt man getrennt Schwarz (K/Black).

Farbe = Schwarz + Farbe1 mit Anteil1 + Farbe2 mit Anteil2 + Farbe3 mit Anteil3
Farbe = Weiß - Filter1 mit Stärke1 - Filter2 mit Stärke2 - Filter3 mit Stärke3

Die Farbsysteme haben also immer einen Bezugsort (Stützvektor), von dem aus startend in unterschiedlicher Stärke die Anteile der Grundfarben hinzugegeben oder entfernt werden. Mithilfe der Mathematik lässt sich so auch erklären, weshalb bei einer ungeschickten Wahl der Grundfarben nicht alle Farben gemischt werden können, denn die Praxis erlegt die Beschränkung auf, dass die Anteile nicht kleiner als 0 % und nicht größer als 100 % seien können.

In der Praxis gibt es neben der Überlagerung und Filterung zur Mischung von Farben noch eine andere »Berechnungsvorschrift«, die besser das Malen beschreibt: Man wählt einen Grundton aus der Farbpalette und gibt Weiß zur Veränderung der Sättigung bei. Das HSV-Farbsystem ist auch ein dreidimensionales System, aber mit den Basisvektoren Farbton (engl. hue), Sättigung (engl. saturation) und Helligkeit (engl. value), wobei der Farbton ein Winkel zwischen 0° und 360° ist und Sättigung und Helligkeit zwischen 0 % und 100 % variieren. Die Koordinaten für rot sind (0°, 100 %, 100 %) (oder kurz (0, 100, 100)) und für braun sind sie (20°, 75 %, 36 %). Dies ist sehr abstrakt und meist wird der Farbraum als Kreiskegel oder Zylinder dargestellt.

Es gibt entsprechende Umrechnungsvorschriften zwischen den Farbsystemen. Allerdings deuten die unterschiedlichen Darstellungen des Farbraums – der Menge aller mit dem System darstellbaren Farben – schon an, dass es Schwierigkeiten bei der Umrechnung geben kann. Es gibt Farben in einigen Farbsystemen, die man in anderen Farbsystemen nicht ausdrücken kann. Deutlich wird dies an der Lage des RGB-Farbraums im CIE-Normfarbsystem.

Und selbst die Umrechnung ist nicht so eindeutig, wie man meint. Wer ein Bild mit einer Kamera aufnimmt, es wieder ausdruckt und Original, Darstellung am Monitor und Ausdruck vergleicht, wird feststellen, dass es Unterschiede gibt. Hier ist dann eine Farbkalibrierung notwendig, um die passenden Faktoren für die Umrechnung von Kamera zu Monitor zu Drucker zu bestimmen.

Lebensmittel

Ein anderes Beispiel für ein Vektorsystem findet sich bei Lebensmitteln in Form von Rezepturen, die beschreiben, wie viele Teile von jedem Grundstoff verwendet werden. Natürlich beeinflussen noch viel mehr Faktoren das Ergebnis, aber theoretisch könnte man diese auch wiederum standardisieren und in die Rezeptur aufnehmen, um das Ergebnis genauer zu beschreiben. Dann stehen nicht nur 3 Eier, 200 g Mehl und 50 ml Milch in der Rezeptur, sondern auch 50 g Butter, 100 g Zucker und 5 Minuten Kneten, womit die möglichen Ergebnisse sich nicht mehr nur einen Raum mit drei Dimensionen befinden, sondern in einem Raum mit sechs Dimensionen.

Mit den fünf Dimensionen Eier, Mehl, Flüssigkeit, Fettigkeit und Zucker lassen sich eine Menge von Speisen beschreiben:

Eier Mehl Milch Butter Zucker Speise
1 100 0 0 0 Nudelteig
2 250 500 0 50 Eierkuchen
1 300 0 200 80 Mürbeteig
0 300 10 200 200 Heidesandplätzchen

Diese fünf Zutaten (Anteile) sind gute Grundeinheiten (Basisvektoren) für Backwaren mit Blick auf die Zubereitung. Um Lebensmittel aber mit Blick auf die Ernährung zu beschreiben, hat sich die bekannte Nährwerttabelle mit den Komponenten Fett, Kohlhydrate, Ballaststoffe, Eiweiß und Salz etabliert. Das selbe Lebensmittel hat also im (Vektor-)System der Rezeptur eine andere Beschreibung als im (Vektor-)System der Nährwerte und es gibt Vorschriften, wie man von einem System in das andere »umrechnet« – eine Koordinatentransformation vornimmt.

Verallgemeinerung

Die Vektorrechnung kann allgemein als Zerlegung (gemäß einer Berechnungsvorschrift) von Aufgaben (Elementen des Problemraums) in Teile (Basisvektoren) verstanden werden. Wenn man dann noch weitere Vektorräume kennt, für die es Transformationsvorschriften gibt, so kann man die selbe Fragestellung auch unter einem anderen Blickwinkel sehen und so vielleicht leichter eine Lösung finden.

Diese Überführung von einem System in ein anderes System ist auch ein gängiges Hilfsmittel zur Erleichterung von Problemlösungen:

Anhand der theoretischen Grundlagen ist auch verständlich, weshalb die Teile möglichst unabhängig (orthogonal bei Vektoren) seien sollten, weil sie sich sonst gegenseitig beeinflussen. Eventuell liefert die Theorie auch eine Möglichkeit, die Einflüsse herauszurechnen, wenn die Praxis die Unabhängigkeit nicht ermöglicht.

Mit all den Begriffen, die ich hier im Text zum Teil gezielt gewählt habe, zeigt sich, dass es gewisse Bezüge zwischen der Theorie und der Praxis gibt. Die Herausforderung für ein Modell besteht nur darin, die Zuordnungen zwischen Praxis und Theorie zu finden und am Ende auch zu prüfen, ob diese Zuordnungen gültig sind, damit keine fehlerhaften Berechnungen mit dem Modell vorgenommen werden können.