Hirzel: »Physik und Philosophie«

@// ISBN: 9783777624327

Physik und Philosophie

Quantenmechanik: Regeln/Gesetzmäßigkeiten, die das Verhalten von Teilchen auf atomarer Ebene beschreiben. Analog zur Newtonschen Mechanik, die das Verhalten von Körpern auf der makroskopischen Ebene beschreibt.

Quantentheorie: »Die Zustände der kleinsten Teile der Materie nehmen nur diskrete Energieniveaus an. Sie verändern ihren Zustand nicht stetig, sondern sprunghaft.« Dies ist ein großer Widerspruch zur Newtonschen Mechanik, da diese von einem kontinuierlichen Verlauf ausgeht.

Anfang des 20. Jahrhunderts massive Erkenntnisse über das Atommodell

  1. experimentelle Beobachtung: Körper die erwärmt werden, strahlen Licht in einer bestimmten Farbe (Wellenlänge) in Abhängigkeit der Wärme ab; @wp("Wärmestrahlung"). Dies geschieht aber nicht gleichmäßig, sondern in Sprüngen. Planck findet eine Formel, die den Zusammenhang beschreibt; Plancksche Gesetz der Wärmestrahlung
  2. Planck wendet diese Formel auf einzelne Atome an und betrachtet ein strahlendes Atom als Oszillator. Die Formel ergibt, dass der Oszillator die Energie nicht stetig, sondern in Energiequanten aufnehmen muss, also nur diskrete Energieniveaus/Zustände annehmen kann; Quantentheorie (1900)
  3. Einstein erklärt aufgrund des photoelektrischen Effekts, dass Licht aus Lichtquanten (Energiepaketen) besteht, die sich mit hoher Geschwindigkeit durch den Raum bewegen. Widerspruch zur herkömmlichen Deutung von Licht als Welle; beide Interpretationen erklären beobachtete Effekte des Lichts: Beugung bzw. photoelektrischer Effekt; @wp("Welle-Teilchen-Dualismus") und Vereinigung dieses zur @wp("Materiewelle")
  4. 1911 stellt Rutherford ein Atommodell auf, bei dem der Kern positiv elektrisch geladen ist und die Atome um den Kern kreisen. Der größte Teil der Masse eines Atoms ist im Kern, aber die Elektronen bestimmen dessen chemische Eigenschaften, weil sie mit Elektronen anderer Atome wechselwirken können.
  5. Die »Bahnen« der Elektronen können aber nicht als Ort der sich bewegenden Elektronen (wie Planetenbahnen) verstanden werden, sondern als eine stehende Welle, die den möglichen Aufenthaltsort als eine @wp("Wellenfunktion") beschreibt. Diese kann sich aus geometrischen Gründen nur an ganzzahligen Orten der Wellenlänge ausbilden, weshalb die zugeführte Energie nur sprunghaft (in Quanten) aufgenommen oder abgegeben werden kann.

Mit der Heisenbergschen Unschärferelation wird zusätzlich eine Grenze des Beobachtbaren gezogen: Für ein Teilchen kann man den Ort und die Geschwindigkeit nur bis zu einem gewissen Grad exakt bestimmen. Erhöht man die Genauigkeit einer Größe, so verringert sich die Genauigkeit der anderen Größe.

Ein weiteres Problem auf atomarer Ebene ist die Beeinflussung des System durch die Messung: Wenn man den Ort eines Teilchens (z. B. Eletrons) bestimmen will, muss man dieses mit einem (hochenergetischen) Gammastrahl zusammentreffen lassen. Dabei wird jedoch das Teilchen selbst durch die Messung beeinflusst und es ändert sich das System. Auf makroskopischer Ebene hat man dieses Problem nicht, da zum Beispiel die Energie der Lichtstrahlung zur Beobachtung einer rollenden Kugel nicht den Lauf der Kugel verändert. Auf atomarer Ebene sind sich allerdings Objekt und Messinstrument so ähnlich, dass sie sich gegenseitig beeinflussen. Erst der Beobachter in Wechselwirkung mit dem System bestimmt (im Sinne von herbeiführen, nicht ermitteln) den Zustand des Systems. Schrödingers Katze, Konstruktivismus

Seite 132:

Alle die Begriffe und Worte, die sich in der Vergangenheit durch das Wechselspiel zwischen der Welt und uns selbst gebildet haben, sind hinsichtlich ihrer Bedeutung nicht wirklich scharf definiert. Damit ist gemeint: wir wissen nicht genau, wie weit sie uns dazu helfen können, unseren Weg durch die Welt zu finden. Oft wissen wir, daß sie in einem sehr weiten Bereich innerer und äußerer Erfahrungen angewendet werden können, aber wir wissen niemals ganz genau, wo die Grenzen ihrer Anwendbarkeit liegen. Dies gilt selbst bei den einfachsten und allgemeinsten Begriffen wie Existenz oder Raum und Zeit. Daher wird es niemals möglich sein, durch rationales Denken allein zu einer absoluten Wahrheit zu kommen.

[…]

Selbst wenn man sich darüber klar ist, daß die Bedeutung eines Begriffes niemals mit absoluter Genauigkeit festgelegt werden kann, so bilden doch einige Begriffe einen integrierenden Bestandteil unserer wissenschaftlichen Methoden, da sie wenigstens für die gegenwärtige Zeit das Endresultat einer Entwicklung des menschlichen Denkens in der Vergangenheit bilden, und zwar in einer sehr weit zurückliegenden Vergangenheit. Möglicherweise sind sie uns schon durch unsere Vorfahren vererbt, und jedenfalls sind sie die unentbehrlichen Werkzeuge für jede wissenschaftliche Arbeit in unserer Zeit. In diesem Sinne kann man sie praktisch a priori nennen; aber vielleicht werden in der Zukunft weitere Begrenzungen für ihre Anwendung gefunden werden.

Reclam: »Quantentheorie und Philosophie«

@// ISBN: 978-3-15-009948-3

Seite 56 f

Inwieweit sind wir also schließlich zu einer objektiven Beschreibung der Welt, besonders der Atomvorgänge, gekommen? Die klassische Physik beruhte auf der Annahme – oder sollten wir sagen auf der Illusion? –, daß wir die Welt beschreiben können oder wenigstens Teile der Welt beschreiben können, ohne von uns selbst zu sprechen. Das ist tatsächlich in weitem Umfang möglich. Wir wissen z. B., daß es die Stadt London gibt, unabhängig davon, ob wir sie sehen oder nicht sehen. Man kann sagen, daß die klassische Physik eben die Idealisierung der Welt darstellt, in der wir über die Welt oder über ihre Teile sprechen, ohne dabei auf uns selbst Bezug zu nehmen. Ihr Erfolg hat zu dem allgemeinen Ideal einer objektiven Beschreibung der Welt geführt. Objektivität gilt seit langem als das oberste Kriterium für den Wert eines wissenschaftlichen Resultats.

Nachwort des Herausgebers, Seite 120 f

Der »Umsturz im Weltbild der Physik« […] war in diesen ersten dreißig Jahren des 20. Jahrhunderts, besonders aber in seinen ersten zehn Jahren begleitet von revolutionären Bewegungen auf einer ganzen Reihe unterschiedlicher Gebiete. In der Malerei, in der Musik, in der Literatur, in der Architektur entstanden beinahe gleichzeitig und sicherlich oft voneinander unabhängig Bestrebungen, mit traditionellen Anschauungs- und Aneignungsformen radikal zu brechen. Namen wie Schönberg, Marinetti, Kandinski, Picasso, Loos, Kafka; Zusammenschlüsse wie das Bauhaus, provokative Gruppen wie die Dadaisten, Bewegungen wie der Expressionismus, der Surrealismus, der Kubismus; in der Politik die Herausbildung einer pragmatisch-kommunistischen Theorie durch Lenin, bei anderen die intellektuelle Vorbereitung des Faschismus: all dies vollzog sich gleichzeitig, und der historische Rückblick sollte sich davor hüten, zusammenzusehen, was nie zusammengehörte.

Für den gebildeten Bürger platzte die Welt auseinander wie ein unter Überdruck geratener Dampfkessel. Die Wissenschaften und die Künste schienen sich vordem noch unter dem Sinn zu beugen, der in der Philosophie, der in der Entfaltung des Staates kulminierenden Politik, einer im täglichen tätigen Leben realisiert und erfahren wurde. Innerhalb des Sinns ging das als schön Empfundene noch mit dem als richtig Erkannten zusammen, standen das Urteilen und Erleben noch nicht in unauflöslichen Widersprüchen, die dann späterhin mit Gewalt, Unterdrückung und Terror aufgelöst wurden. Innerhalb des Sinns konnte der Mensch noch hoffen, alles zu erfahren und alles in seiner Vorstellung zu einem harmonischen Gesamtbild verbinden zu können. Nun war so nichts mehr als einheitlich zu begreifen. Vielleicht hatte man nur eine Illusion verloren. Aber es war eben das bittere Gefühl des Verlusts, das sich der Menschen bemächtigte. Wieviel Fortschritt in den Wissenschaften, in den Künsten, in der Gestaltung des Lebens – aber wovon man fortschritt, das war zusammengebrochen.

Wir erleben das, zwei Generationen danach, auf andere Art. Wenn Planck Recht damit hatte, seine Entdeckung mit der des Kopernikus zu vergleichen – und er hatte, was die systematischen Folgen für das wissenschaftliche Denkgebäude angeht, ohne Zweifel Recht –, dann fragt man sich, ob es denn nach Planck für die geistige Orientierung der Menschen eine vergleichbare Wende gegeben hat. Solches Vergleichen ist historisch stets prekär. Dennoch darf man die Behauptung wagen, daß der durchschnittlich gebildete Bürger des 20. Jahrhunderts den Erschütterungen des physikalischen Weltbilds, erst recht den daraus abzuleitenden philosophischen Konsequenzen mit einem gediegene Desinteresse begegnete.