Zusammenfassung

Ankündigung

Am Donnerstag dem 19. November 2020 gibt es vom Arbeitsbereich Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie des Instituts für Soziologie der FSU Jena eine Veranstaltung mit dem Thema Merkel, die Illusion der Mitte und der Aufstieg der AfD. Referent ist Stephan Hebel, langjähriger Redakteur der Frankfurter Rundschau und politischer Autor.

Als Diskussionsgrundlage bietet Herr Hebel den folgenden Auszug aus seinem 2019 im Westend Verlag erschienenen Buch Merkel: Bilanz und Erbe einer Kanzlerschaft. Weitere Termine der Veranstaltungsreihe sind in der Ankündigung für das Wintersemester 2020/21 aufgeführt.

Basistext

Die Bilanz fällt insgesamt alles andere als positiv aus. Allerdings hat die hier geübte Kritik mit den Parolen von rechts (»Volksverräterin«) so wenig zu tun wie mit den erstaunlichen Lobreden, die der scheidenden Spitzenfrau aus dem demokratischen Lager auch weit über die eigene Partei hinaus gewidmet wurden. (…)

So absurd auf der einen Seite die Vorstellung der nationalen Rechten ist, die Probleme einer globalisierten Gesellschaft ließen sich durch Abschottung der Nation nach außen und durch den Rückzug in eine ethnisch-kulturell homogene Volksgemeinschaft lösen, so verfehlt erscheint andererseits auch die Ansicht, die um Merkel versammelte »Mitte« sei die richtige Antwort auf Populismus, Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit.

Dieses Buch vertritt eine andere, in der öffentlichen Debatte bisher unterrepräsentierte These: Durch mangelnden Reformwillen, durch übermäßige Orientierung an den Interessen »der Wirtschaft« und durch einen allenfalls halben Humanismus in der Flüchtlingsfrage hat diese Kanzlerin selbst zur Spaltung des Landes und zur Erosion des demokratischen Diskurses entscheidend beigetragen. (…)

In der Erzählung von der angeblichen Alternativlosigkeit ihres Handelns hatte Angela Merkel bekanntlich eine große Meisterschaft entwickelt. Das machte sie zur beliebtesten Politikerin Deutschlands – so lange, bis die Flüchtenden aus den Krisengebieten dieser Welt auch dem Letzten die Brüchigkeit des gemütlichen »Weiter so« deutlich machten. Deutlich machten, wohl gemerkt: Verursacht wurden die Brüche im deutschen Biedermeier-Kapitalismus nämlich nicht durch die Migration, sondern sie waren schon längst vorher da. Und statt politisch dagegen anzugehen, verstärkte der Merkelismus die Konfliktpotenziale durch die politische Verweigerung dringend notwendiger, tiefgreifender Reformen, die – siehe die Wohnungspolitik, siehe die Verkehrswende, siehe die notwendige Umverteilung durch Steuern – nur in Konfrontation mit Spitzenverdienern, Vermögensbesitzern, Unternehmen und deren Lobby hätten angegangen werden können. Genau das hat Angela Merkel weder getan noch gewollt, und das macht sie mitverantwortlich für die Erfolge derjenigen, die so tun, als sei der Kampf gegen Zuwanderung die einzige »Alternative für Deutschland«.

Wer nur die erregt ausgetauschten Hasstiraden und die Ergebenheitsadressen der Zeit seit dem Herbst 2015 verfolgte, hätte kaum glauben können, dass Angela Merkel noch wenige Jahre zuvor als weitgehend unangefochtene Lieblingspolitikerin der Deutschen dastand. Bei der Bundestagswahl 2013 führte sie die Unionsparteien zu einem fulminanten Wahlergebnis: 41,5 Prozent, ein Plus von 7,7 Punkten gegenüber 2009. Es mag erstaunen, wie schnell dann die Aura der Unanfechtbarkeit, die Merkel bis zum Herbst der Willkommenskultur besaß, verflog. Dabei hat die Zuwanderung, so verbissen sie auch diskutiert wurde, die deutsche Gesellschaft längst nicht so stark verändert wie andere Entscheidungen der Regierungen unter Merkel. Ein Blick auf einige große Linien ihrer Politik wird zeigen: Diese Kanzlerin hatte Deutschland schon längst geprägt, als die ersten Flüchtlinge kamen.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Merkel ist weder eine Heldin noch eine Schurkin. Sie war und ist eine Politikerin, die es in 13 Jahren Kanzlerschaft auf entscheidenden Politikfeldern versäumt hat, den Zusammenhalt der Gesellschaft entschieden zu stärken und die Lage der Menschen im Land zu verbessern. Jedenfalls die Lage derjenigen, für die Politik da zu sein hätte, weil sie die Unterstützung des Staates brauchen. (…)

Allerdings hat selbst der Merkelismus seine fortschrittlichen Seiten. In 18 Jahren CDU-Vorsitz hat die erste Frau in diesem Amt ihrer Partei auch einiges an Modernisierung zugemutet. Wenn es darum ging, hoffnungslos veraltete politische Bastionen in der Gesellschaftspolitik zu räumen, griff sie zu. Vier Themen werden in diesem Zusammenhang immer wieder genannt: Familienpolitik, Aussetzung der Wehrpflicht, Atomausstieg und »Ehe für alle«. (…)

Trotz all der Reformen im Einzelnen bleibt es dabei: Die Spaltung in der Gesellschaft wurde in der Ära Merkel nicht nachhaltig bekämpft, sondern sie hat sich ganz im Gegenteil sogar vertieft. (…) Wer Merkel weder mit Verehrung noch mit Hass betrachtet, sondern sie an den Ergebnissen ihrer Kanzlerschaft misst, stellt fest: Die "marktkonforme Demokratie" war von Anfang bis Ende das Leitbild ihrer Politik, und das hat die soziale und ökonomische Entwicklung des Landes entscheidend geprägt.