Zu dem Artikel »Wie der Westen sich selbst retten kann« hat die Süddeutsche Zeitung die Leserdiskussion »Wie gelingt Demokratie?« gestartet, wozu dieses meine Meinung ist:

Ich sehe es ebenfalls so, dass die gegenwärtige Form der Demokratie und allgemein das Modell der westlichen Welt (Demokratie, Rechtsstaat, Menschenrechten, Liberalismus, Toleranz, Pluralismus und Marktwirtschaft) einer Überholung und Anpassung an die Bedürfnisse der Zeit bedarf. Jedoch sollte der Weg nicht hin zu Autokratie führen, sondern eher eine Wiederbelegung der demokratischen Idee sein. Das Modell der westlichen Welt ist in Gefahr geraten, weil es den Menschen keine Hoffnung, kein Zukunftsversprechen mehr bietet.

Nach dem Zweiten Weltkrieg galt die Mission »den Kindern soll es einmal besser gehen« und so hat jede Generation dafür gearbeitet, den Wohlstand in der Zukunft zu mehren. Aber seit zwanzig Jahren etwa geht das Wohlstandswachstum in eine Sättigungsphase über, in der weitere Fortschritte nur noch schwer zu erreichen sind, ja es geht sogar bis dahin, dass langsam offenbar wird, dass wir über unsere Verhältnisse leben und eigentlich wieder ein Stück des Wohlstands abgegeben sollten. Langsam dringt bis in die hinterste Ecke durch: »So kann es nicht weitergehen.«

Seit zehn Jahren nun folgt eine Krise1 der anderen: Klima, Finanzmärkte, Flüchtlinge, Terroranschläge. Das Leben prasselt ungewohnt hart und von allen Seiten auf die Menschen ein, sodass sich ihr innerer Kompass im Kreis dreht und sie mit den Fragen »wie weiter?« und »wohin?« orientierungslos dastehen, während schon die nächste Herausforderung auf sie zugerollt kommt.

  1. eine gesellschaftliche/persönliche Krise ist der Zustand des Handlungsdrucks bei gleichzeitig fehlenden Handlungsoptionen; wenn etwas getan werden muss, aber kein bzw. nicht der »richtige« Weg zu sehen ist 

Politik und Medien haben die Menschen überfordert und alleingelassen, indem sie ihnen immer mehr Probleme vor die Füße gelegt haben, die eigentlich nur als Gemeinschaft zu bewältigen sind. Es gab immer wieder ein höchst dramatisches Erwachen ausgelöst von den Medien, dem mit einer Beschwichtigungs- und Einschlummerpolitik à la »alles ist bestens, wir schaffen das« begegnet wurde. Aber so langsam werden die Weckrufe nach Veränderungen immer deutlicher und die Menschen blicken Hilfe suchend um sich, wie ein Kind das des Nachts im dunklen Zimmer erwacht und trotz allem guten Zureden nicht das Gefühl abschütteln kann, dass da ein Monster unter dem Bett lauert.

Mit dem immer wieder auftreten neuer Krisen verlieren die Schlummerlieder und Zukunftsversprechen der Politik langsam ihre Wirkung und hinterlassen ein Vakuum der Orientierungslosigkeit, das wiederum andere Kräfte gut zu nutzen wissen und den Menschen mit einfachen Erklärungen eine Hoffnung bieten. Aber nicht nur bietet die Politik keinen Leuchtturm zur Orientierung mehr, sie lässt auch viele Menschen mit ihrer Ratlosigkeit – »wie soll es mal weitergehen« – allein stehen. Die immer gleichen Beschwichtigungsformeln gehen an den Fragen und Sorgen der Menschen vorbei und hinterlassen ein Gefühl von fehlender Würdigung: »alles ist gut, das wird schon, schlaf jetzt weiter«.

So braut sich eine Mischung aus fehlender Anerkennung und dem Gefühl einer Orientierungslosigkeit und Ohnmacht in Anbetracht drängender Fragen zusammen. Parallel dazu erleben die Menschen, dass sie in der digitalen Welt (scheinbar) überall dabei seien können und (scheinbar) alles erfahren können, aber in der Politik Transparenz eher einer Milchglasscheibe gleicht und Teilhabe durch das verkrustete Parteiensystem sich wie Briefeschreiben im Zeitalter von E‑Mails anfühlt. Es bleibt bei den Menschen ein unbefriedigendes und irritiertes Gefühl, das ihnen immer mehr bewusst wird. Doch diesen Raum der Leere überlässt die Politik anderen Kräften, die diese Lücke mit alternativen Erzählungen füllen und damit all jenen eine Hoffnung geben, die sich als hilflos und ruhiggestellt empfinden.

Das Modell der westlichen Welt und damit die Demokratie sind nicht lebendig geblieben, sondern an einem Punkt in der Vergangenheit stehengeblieben und träge, fett und faul geworden. Die größte Bedrohung für die Demokratie sind daher nicht andere Systeme, die andere Wege gehen, sondern es ist der Mangel einer Zukunftsvision auf dem Boden der Demokratie. Das sanfte Dahingleiten durch die Jahrzehnte hat uns faul werden lassen, an uns und an der Demokratie zu arbeiten, und nun fangen so langsam die Menschen an, einem anderen Messias hinterherzulaufen, wo langsam der Leitstern am Horizont verblasst.

Gerade die Furcht vor anderen Systemen ist mit ein Ausdruck des mangelnden Selbstwertgefühls der Demokratie – es fehlt der Glaube daran. Wenn wir für die Demokratie einen Platz in der Zukunft sehen würden, würden uns unsere Zweifel nicht so plagen und ständig nach links und rechts blicken lassen. Die Demokratie muss daher den Anforderungen der Zeit angepasst und wieder lebendiger werden. Sie muss den permanenten Krisenmodus verlassen und den Menschen das Gefühl von Anerkennung, Wirkmächtigkeit und Teilhabe geben, sodass sie sich wieder mit der Idee identifizieren und sie tragen.

Die Ideen für Veränderungen sind im Grunde nicht groß und sollten doch das Schiff so weit drehen können, dass es wieder ins Fahrwasser kommt und es vorwärtsgeht. Wir sollten die Mitgliedschaft in Bundes- und Landesparlamenten begrenzen, sodass ein kontinuierlicher Zustrom frischer Ideen gewährleistet ist. Die Entscheidungsverfahren der Parlamente sollten weg von Papier und effektiv verschlossenen Aktenordnern und in digitaler Form allen zugänglich werden bis dahin, dass es auch eine Form der allgemeinen Teilhabe geben kann. Für viele Probleme (Bildung, Soziales, Digitalisierung, …) müssen endlich realistische Visionen auf den Tisch, die mehr als Makulatur sind. Die Menschen sind bereit für Veränderungen. Sie wollen nur ein Ziel und die Hoffnung – es bedarf »einfach« wieder einer Politik der Gesellschaft und Zukunft.