Irgendwann im Leben taucht immer wieder die Frage nach dem Sinn des eigenen Handelns auf: »Wofür brauchte ich das? Ist das sinnvoll, was ich hier tue?« Sich diese Frage regelmäßig – aber nicht zu oft – zu stellen, ist richtig und wichtig, hilft sie uns doch, die Positionsbestimmung und Orientierung auf der großen Karte des Lebens zu finden und unseren Weg mit den gesetzten Zielen abzugleichen oder gar die Ziele neu zu bestimmen.

So geschieht bereits in der Schule diese Reflexion über den Sinn dessen, was da gerade getan wird, und es taucht gern die Frage auf »Wofür braucht man das im späteren Leben?« Wer diese Frage stellt und nach Orientierung sucht, ist schon einmal auf einem guten Weg, denn er denkt größer und will mit dem Blick auf die globale Karte wissen, wo er steht. Wer sich hingegen einfach nur vom Strom treiben lässt, wird keinen eigenen Weg durchs Leben finden. Daher ist diese – bei Lehrern so unbeliebte – Frage für die Entwicklung doch so wichtig. Leider können nur wenige Lehrer eine Antwort auf die Frage geben und würgen sie gern mit »Man muss auch manchmal Dinge tun, die man nicht versteht« ab; eine sehr ärgerliche Antwort, da sie das Bedürfnis nach Orientierung unbefriedigt lässt oder gar abtötet.

Auf der anderen Seite muss auch ich sagen, dass die Antwort auf die Frage nicht leicht zu geben ist. In der Mehrzahl der Fälle muss man zum konkreten Thema ehrlicher Weise sagen, dass man das sehr wahrscheinlich nie im Leben benötigen wird. Der überwiegende Teil des Schulstoffs hat nichts mit den Alltagsproblemen des Lebens zu tun. Viele Schüler mögen an dieser Stelle jubeln und sagen »Ich hab's doch immer schon gewusst«. Aber dem muss man entgegnen, dass die Antwort auf die Frage eben nicht leicht zu geben ist; die Antwort muss nämlich vielschichtig ausfallen, weshalb ein einziger Satz dafür nicht genügt.

Vom Wissen zur Kompetenz

Der konkrete Stoff, der im Unterricht behandelt wird, ist nur ein Bruchteil dessen, was in die umfassende Antwort hineinspielt. Wichtiger ist der Blick auf die Nebeneffekte, die mit dem Erlernen des Stoffes einhergehen. Wenn der Mensch etwas Neues lernt, speichert er nicht einfach nur neues Wissen ab, sondern trainiert gleichzeitig auch sein Gehirn. Das menschliche Gehirn ist vergleichbar mit einem Muskel, der auch nicht einmal ein bestimmtes Gewicht hebt und daraufhin ist die Kraft immer da. Ein Muskel braucht Wiederholung, damit sich die entsprechenden Muskelzellen und -fasern aufbauen, um zukünftige Gewichte heben zu können.

Ähnliches passiert auch im Gehirn. Wenn man einen bestimmten Typus von Aufgaben übt, erlernt man dabei nicht nur den konkreten Inhalt, sondern darüber hinausgehend auch die Kompetenz in einer bestimmten Art und Weise zu denken. Genauso wie das Training mit einer Fünfkilohantel dazu befähigt, auch eine Zehnkilohantel oder einen Sack Zement zu heben, genauso trainiert man zum Beispiel mit Gleichungssystemen die Fähigkeit abstrakt zu denken. Der Fünfkilohantel, genauso wie den Gleichungssystemen wird man später im Leben nie wieder begegnen. Aber die Kraft bzw. das Denkvermögen, dass man anhand dieses Trainings aufgebaut hat, kann man im späteren Leben nutzen.

Um noch etwas bei dieser Analogie zwischen Muskel- und Gehirntraining zu bleiben, findet sich auch der Vergleich zwischen Muskelkater nach dem Sportunterricht und Kopfbrummen nach dem Mathematikunterricht: Der Körper wurde stark gefordert und muss nun die Muskel- bzw. Gehirnzellen aufbauen, um sich eben für zukünftige Herausforderungen dieser Art zu wappnen. Wenn es also nach dem Unterricht im Arm oder Kopf brummt, ist das ein Anzeichen des Fortschritts und der (Muskel- oder Gehirn-)Bildung.

In der Schule geht es also vorrangig nicht um den Erwerb des konkreten Wissens, sondern der grundlegenden Kompetenzen, die mit diesem Wissen verbunden sind. Die konkreten Aufgaben und Themengebiete der Unterrichtsfächer dienen einem höheren Ziel. Und da man – wie auch beim Sport – gewisse Fähigkeiten nicht mit nur einer einzigen Bewegung erlernen kann, braucht es unterschiedliche Stimulationen, aus deren Summe sich das Training der Kompetenz ergibt. Im Mathematikunterricht werden daher nicht nur zehn Jahre lang Gleichungssysteme gelöst, sondern alle möglichen Themengebiete angesprochen, die die Kompetenz des abstrakten Denkens auf vielfältige Weise anregen und aufbauen.

Die Kompetenzen fürs Lebens

Stufen der Schulbildung Freiheit Freiheit, Souveränität, Zufriedenheit Bildung Intelligenz, Bildung Bildung--Freiheit Deutsch Sprachgefühl, Kommunikationsfähigkeit (Deutsch) Deutsch--Bildung Kunst Gespür für Schönheit/Harmonie (Kunst, Musik) Kunst--Bildung Sport Körpergefühl (Sport) Sport--Bildung Mathe abstraktes Denkvermögen (Mathematik) Mathe--Bildung Bio empirisches Denkvermögen (Biologie, Physik) Bio--Bildung Gedichte Gedichte Gedichte--Deutsch Drama Drama Drama--Deutsch Oper Oper Oper--Kunst Gemälde Gemälde Gemälde--Kunst Weitsprung Weitsprung Weitsprung--Sport Badminton Badminton Badminton--Sport Pythagoras Pythagoras Pythagoras--Mathe bin. Formeln bin. Formeln bin. Formeln--Mathe Funktionen Funktionen Funktionen--Mathe Herbarium Herbarium Herbarium--Bio Periodensystem Periodensystem Periodensystem--Bio Kepplers. Gesetze Kepplers. Gesetze Kepplers. Gesetze--Bio

Da der Mensch mehr als eine Form des Denkens beherrscht, gibt es auch verschiedene Fächer, die sich mit den unterschiedlichen Richtungen befassen. Im Deutsch- und allen anderen Sprachfächern wird ein Sprachgefühl vermittelt, das über die reinen Begriffe von Substantiv, Hauptsatz und Versmaß hinausgeht und mit dem man auch später sich auf intuitive Weise Inhalte erschließen bzw. neue Inhalte formulieren kann.

In Fächern wie Kunst und Musik wird ein Gespür für Schönheit vermittelt. Themen wie Opern, Sinfonien oder Gemälde vermitteln einen Eindruck davon, was Harmonie und Komposition ist, wie man Dinge auf gute oder auch schlechte Weise zusammenbringen kann, um damit eine Botschaft zu kommunizieren … und umgekehrt diese auch verstehen zu können.

Der Sportunterricht ist nicht allein für den Muskelaufbau zuständig, sondern vermittelt auch ein Körpergefühl, sodass man unbewusst auch erlernt was Balance und Bewegung bedeutet. Nur wenige haben zum Beispiel die Möglichkeit im Sportunterricht Schlittschuhlaufen zu lernen, aber mit den Fähigkeiten, die man im Sportunterricht erworben hat, ist es später möglich Schlittschuhlaufen zu lernen.

Genauso verhält es sich mit dem Mathematikunterricht. Wer an vielen Aufgaben erlernt hat, abstrakt zu denken, mit Buchstaben und Formeln also über etwas nachzudenken, das nicht konkret vor einem steht – auf gut Deutsch, sich Welten in Gedanken vorzustellen und sich darin zu bewegen –, der wird auch später durch die virtuelle Welt des Internets problemlos navigieren können, weil er nicht darauf angewiesen ist, die Objekte konkret vor sich zu sehen und sie anfassen zu können.

Kleiner Einschub:

Dieses abstrakte Denkvermögen ist übrigens eine beeindruckende Fähigkeit, die uns die Natur geschenkt hat: Wir können allein durch unsere Vorstellungskraft über Situationen nachdenken, ohne sie physisch vor uns zu haben, wir können uns in Situationen an Orte versetzen, an denen wir nicht sind, und wir können heute bereits über Ereignisse in der Zukunft nachdenken und im Voraus planen. All dies ist rein abstrakt und nicht greifbar – aber um so denken zu können, bedarf es Training.

In Unterrichtsfächern wie Physik, Biologie und Chemie erlernt man auf höherer Ebene die Methodik des empirischen Denkens: »Wie ergründe ich ein neues Gebiet? Wie geht man systematisch vor, um ein Ziel zu erreichen?« Genau diese Kompetenz ist im späteren Leben notwendig, denn nur selten bekommt man eine Anleitung für neue Aufgaben vorgelegt, und wildes Herumstochern führt nur mit Glück und viel Aufwand zum Ziel. Eine strukturierte Arbeitsweise von Analyse, Planung, Durchführung und Kontrolle sind zum Beispiel die essenziellen Bausteine des Projektmanagement wie es in vielen Berufen benötigt wird.

Jedes Fach vermittelt also nicht nur das konkrete (vergängliche) Wissen, sondern schult auch eine höhere Fähigkeit. Wobei in allen Fächern nicht nur rein eine Fähigkeit in diesem Sinne angesprochen wird, sondern in vielen Fächern überschneiden sich auch die angesprochenen Kompetenzen: Im Deutschunterricht wird genauso eine Methodik wie in Physik oder ein Gefühl für Ästhetik wie in Kunst vermittelt; Vorträge in Biologie trainieren ebenso die Fähigkeit sich auszudrücken und zu kommunizieren wie Erörterungen im Deutschunterricht.

Die höheren Ziele

Daher kann man keine klaren Grenzen ziehen und jedem Fach seine eigene Kompetenz zuordnen. Vielmehr bildet der gesamte Unterricht die Summe aller Kompetenzen, die man im Leben benötigt – genau dies bezeichnet man als Bildung. Das höhere Ziel auf der dritten Ebene, das Schule als Ganzes anstrebt, ist Intelligenz und Bildung. Schüler sollen auf vielfältige Weise in allen möglichen Disziplinen, die das Leben einem später abverlangt, trainiert werden.

So gesehen ist Schule ein Crash-Kurs in Lebenskompetenzen: Innerhalb von zehn Jahren bekommt man Fähigkeiten und Wissen vermittelt, die nach aktuellem Kenntnisstand für das spätere Leben notwendig sind.

Und an dieser Stelle – nach einer komplexen Erklärung, die nicht in einen Satz zu fassen ist – schließt sich der Kreis zum Anfang und es steht wieder die Frage »Wofür braucht man das?«: Für Freiheit, Souveränität und Zufriedenheit. Mit einer guten Bildung ist man im Leben weniger Abhängigkeit von äußeren Umständen, kann sich leichter an neue Bedingungen anpassen und Herausforderungen selbständig meistern. Auf diese Weise kann man besser ein selbstbestimmtes Leben führen und die Ziele erreichen, die einem innere Ruhe und Zufriedenheit verschaffen, und wird nicht als Spielball der äußeren Einflüsse hin und her gestoßen. Am Ende ist der Mensch glücklich, wenn er sich frei und als Herr seiner selbst fühlt … also handeln kann, aber auch gleichzeitig die Situationen erfassen, einzuordnen und zu ertragen weiß, in denen er nicht handeln kann.

Nachwort

In meinen Nachhilfestunden versuche ich den Schülern durch Bezüge zum realen Leben eine direkte Motivation für den Stoff zu vermitteln, denn Mathematik kann man überall entdecken, wenn man weiß, wie man hinsehen muss – was den Schülern in der Schule leider selten vermittelt wird. Dennoch sind genug Anwendungen abstrakter Natur und ihre praktische Bedeutung liegt auf der Kompetenzebene. Dies ist mir selbst leider erst viel später im Leben bewusst geworden.

Den vorangegangenen Text habe ich daher zu einem Teil auch für mein vergangenes Ich als Schüler verfasst, denn wenn mir vor dreißig Jahren jemand den Unterschied zwischen Schulstoff und Kompetenz erläutert hätte bzw. wie dies mit Lebenssinn und Lebensglück verbunden ist, wäre ich motivierter in die Schule gegangen und hätte Fächer wie Sport, Musik und Kunst nicht abschätzig betrachtet und abgelehnt. Daher richtet sich der Text in erster Linie an Schüler, um ihnen eine Motivation für die Schule zu geben, aber in zweiter Hinsicht auch an die Erwachsenen, damit sie den Kindern nicht die Motivation nehmen, indem sie ihr Unverständnis über die Schule weitergeben.

Schule und Lernen allgemein macht Spaß, wenn man darin ein sinnvolles Ziel erkennt. Leider gehen und gingen Jahr für Jahr Generationen von Schülern von der Schule und waren froh, es geschafft zu haben und Lernen hinter sich lassen zu können. Für unsere Zukunft als Gesellschaft ist dies von großem Nachteil, denn unsere Welt wandelt sich gerade so rasant bzw. wird es immer schneller tun, sodass ein Schulwissen fürs Leben nicht mehr ausreicht und jeder bis ins hohe Alter beständig dazulernen muss. Wer mit zwanzig aufhört, sich für Neues zu interessieren und seine Kompetenzen in der Schulzeit nur gering ausgebildet hat, wird in zehn, zwanzig Jahren vom rasenden Fortschritt abgehängt und im besten Falle mitgeschleift – aber an ein selbstbestimmtes Leben ist dann nicht zu denken. Auf der anderen Seite wird dies zu großen Spannungen in der Gesellschaft führen und den Fortschritt behindern, weil viele sich dagegen stellen werden.

Schon die obige Erläuterung über die Beziehung von Stoff, Kompetenz und Lebenssinn ist ein gutes Beispiel für die Wirkung von Bildung: Wenn man dieses Zusammenspiel erkennt und den Wunsch nach einem sinnvollen Leben verfolgt, kann man wesentlich selbstbestimmter die Vorgänge in der Schule erleben, als es umgekehrt bei reinem Gehorsam wäre. Wem nicht der Blick auf das große Ganze gegeben wird, der fühlt sich eingeengt, fremdbestimmt, unfrei und damit unzufrieden und als Folge zeigt sich die Rebellion gegen die Schule, wie sie täglich immer wieder auftritt. Und ebenso ist es im späteren Leben: wer nicht das Zusammenspiel im Großen und Ganzen erkennt oder vermittelt bekommt, wird sich dem Diktat der Politiker und der Anderen ausliefert fühlen und unzufrieden werden oder gar rebellieren.