Ich muss klar sagen, ich bin in meiner Vorstellung von Wissensvermittlung sehr stark von Universitätsvorlesungen geprägt und kann mich im Punkt der Mitschriften kaum noch an meine Schulzeit erinnern. Dennoch würde ich auch für den Schulunterricht eine andere Form der Aufzeichnung vorschlagen.
Kollektives Manuskript
Eine wesentliche Eigenschaft, die die Digitalisierung mit sich bringt, ist die Möglichkeit Daten exakt und mit minimalem Aufwand zu reproduzieren. Dies eröffnet ganz andere Möglichkeiten im Datenaustausch und der gemeinschaftlichen Arbeit an Werken. Genau in diesem Punkt sehe ich auch einen sehr großen Wandel in der Unterrichtsgestaltung.
Anstatt jeden Schüler seine persönliche Mitschrift anfertigen zu lassen, sollten alle Schüler gemeinsam an einer Mitschrift arbeiten. Für jede Stunde könnten zwei oder drei Schüler ernannt werden, die für die Mitschrift verantwortlich sind. Diese können entweder ganz klassisch mit Zettel und Stift oder direkt mit dem Laptop mitschreiben und sich Notizen anfertigen. Damit hätten auch Schüler ohne digitales, mobiles Gerät die Chance zur Teilnahme.
Ziel ist es, dass diese Schüler bis zur nächsten Stunde aus diesen Notizen ein Manuskript anfertigen, das den anderen Schülern die Inhalte erklärt. Die Sammlung der Skripten, also die Mitschrift des Unterrichtsjahres, soll mit dem Blickpunkt der Schüler entstehen und genau nicht vom Lehrer angefertigt; sondern Schüler erklären Schülern den Stoff.
Meine Erfahrung ist, dass man als Wissender nie die Probleme und Fragen vorhersehen kann, die ein Lernender hat. Daher ist es besser, wenn Schüler während des Prozesses des Lernens genau die Aspekte erklären, die ihnen beim Verständnis des Stoffes wichtig sind. Außerdem entsteht dadurch ein anderes Gemeinschaftsgefühl, wenn jeder einmal die Verantwortung bekommt (bzw. tragen muss – Stichwort: Umgang mit Macht) und am Ende ein Kollektivwerk geschaffen wird.
Da es ein gemeinsames Werk seien soll, darf auch jeder Schüler an allen Stellen Veränderungen vornehmen. Durch diese Reibereien sollten Schüler genau dazu gebracht, die Unklarheiten und Verständnisprobleme zu lösen, sich also im Diskurs um eine gemeinsame Lösungsfindung üben.
Da das Werk digital ist, steht es natürlich auch jedem Schüler frei, sich eine Kopie anzufertigen und diese nach seinem belieben zu verändern. Somit werden die Schüler auch ganz natürlich an die Fragen von Informationsorganisation und Wandel von Informationen herangeführt. Das erscheint aus alter Sicht zwar sehr chaotisch und kompliziert, aber so ist der gegenwärtig Zustand der Informationsverwaltung im Internet – und das wird sich auch nicht ändern, man kann nur lernen, damit zurechtzukommen. Daher existieren bereits die Werkzeuge für solches kollaborative Arbeiten.
Inhalt des Manuskripts
Der Inhalt des Skripts wird zwar primär von der Präsentation des Lehrers im Unterricht gespeist, aber um gerade den Schülern auch alternative Informationsquellen (und den Umgang damit) nahezubringen, sollte das Skript auch einen Eigenanteil der Schüler enthalten. Da sich die Informationsquellen in der Welt und hoffentlich auch die Unterrichtsinhalte immer wieder verändern, kann es auch kein fertiges Skript geben, das der Lehrer am Anfang des Jahres verteilt und dann nur noch verträgt.
Vielmehr sollte der Lehrer mit eigenen Notizen einen Diskurs im Unterricht anregen, in dessen Verlauf das Wissen vermittelt wird. In diesem Punkt passt auch sehr gut das Bild des Lehrers als Lebensexpeditionsführer, der nicht mehr der allwissende Gott ist, der sein Wissen auf Steintafeln übergibt, sondern ein Begleiter, der bei der Zielfindung im Informationsdschungel unterstützt.
In diesem Sinne wird auch der Lehrer die Entstehung des Skripts begleiten und auf Fehler hinweisen. Sollte sich aber in einem Jahrgang zum Beispiel ein guter Zeichner oder ein sprachgewandter Schüler befinden, kann das Skript zu einem richtigen Kunstwerk werden.
Tafelbild und Videoaufzeichnungen
Da der Lehrer nur Impulsgeber des Unterrichts ist, sollten Inhalte wie Tafelbilder oder andere Unterlagen des Lehrers den Schülern zu Verfügung gestellt werden. Der Lehrer hält nicht mehr das heilige Wissen in seinen Händen, dass er bewahren und schützen muss. Dem Gesamtanliegen ist es wesentlich förderlicher, wenn die Schüler auf alle Informationen zugreifen können.
Eine weitere Überlegung wäre, den Unterricht auf Video aufzuzeichnen, um die Erstellung des Manuskripts zu unterstützen.[^](Ich habe von vielen Lehrern eher eine Warnung davor bekommen, weil Schüler damit Blödsinn treiben würden, aber einerseits kann man hoffen, dass der Blödsinn ihre Kreativität anregt, und andererseits sollte ein Lehrer im Unterricht nichts tun, das nicht auf Video dokumentiert werden darf.) Teile des Videos könnten in kleine Lehrvideos verwandelt werden, aber es ist fraglich, ob solche Glückstreffer dabei sind. Den dauerhaften Nutzen in den Videos sehe ich auch nicht, da ich selbst für unsere innovativen Vorlesungen in der Uni nicht mal zum Lernen die Videos nochmals angesehen habe.
Videos sind einfach unpraktisch und Ziel soll das Manuskripts sein. Daher sollte auch von Beginn des Schuljahres an kommuniziert werden, dass die Videos am Ende gelöscht werden und zu löschen sind.
Veröffentlichung
Diese Unterrichtsmitschriften und Videoaufzeichnungen sind auch eine gute Möglichkeit, Schülern den Respekt und die Achtung für die andere Person zu vermitteln. Verletzungen der Persönlichkeit im Internet zu verhindern, ist eine Illusion, die nur mit massiven Einschnitten in die Freiheit realisierbar wäre. Die Schüler (und auch alle anderen Menschen) müssen lernen, mit dieser Macht, die ihnen die Digitaltechnik gibt, umzugehen und sie nicht zu missbrauchen. Eine Regulierung dieser Macht bis in die kleinsten Feinheiten führt zu massiven Beschränkungen und Überwachung. Viel besser wäre der verantwortungsvolle und respektvolle Umgang miteinander.
Gerade unter diesem Blickwinkel sollte auch etwaiger Blödsinn der Schüler gesehen werden und ein Verstoß gegen die Vereinbarungen sollte zu einer Thematisierung im Unterricht führen. Fehler müssen reflektiert und aus ihnen muss gelernt werden.
In die Richtung des Persönlichkeitsrechts geht auch das Urheberrecht. Anhand des Skripts kann den Schülern auch sehr realitätsnah der Umgang mit Lizenzen und Fremdwerken vermittelt werden. Ich würde zwar für das Skript eine Lizenzierung unter CC-BY-SA befürworten, aber dies wäre auch eine Entscheidung der Schüler, die zu Beginn verhandelt werden kann.
Öffentlich zugänglich würde ich jedoch keine der Informationen machen. Eventuell gibt es einen internen Schulserver, auf dem für alle Schüler die Skripten anderer Fächer und Jahrgänge verfügbar sind, aber frei im Internet würde ich diese nicht zugänglich machen. Gegebenenfalls kann man Teile der Skripten, zum Beispiel Bilder, gute Formulierungen oder Vorlagen, veröffentlichen. Daher auch das Ziel der CC-BY-SA, damit ein Lehrer gute Arbeiten eines Jahrgangs später weiterverwenden kann.
Freiheit für die Schüler
Zwei große Probleme in der Schule – und das erlebe ich auch jetzt noch bei meinen Nachhilfeschülern – sind Verständnisprobleme und Ausfall. Die Videos und die gemeinschaftliche Aufzeichnung ermöglichen es einem Schüler, der durch Krankheit oder andere Verpflichtungen nicht am Unterricht teilnehmen kann, dennoch den Unterricht im Nachhinein fast komplett nachzuerleben. Somit kann der Ausfall durch einen Beinbruch oder Klinikaufenthalt wesentlich gemindert werden. Durch eine digitale Kommunikation der Klasse untereinander kann dies noch weiter unterstützt werden.
Somit lässt sich den individuellen Einschränkungen von Schüler besser Rechenschaft tragen und es ergeben sich gewisse Freiheiten, wenn Schüler zum Beispiel durch die Verkehrsmittelanbindung regelmäßig Teile des Unterrichts versäumen. Dies könnte sogar so weit gehen, dass Schülern Urlaub während der Präsenzzeit gewährt wird, weil die Eltern beispielsweise nicht anders Urlaub bekommen können. Das ist zwar ein extremer Fall in Anbetracht der jetzigen Starre des Systems, aber Digitalisierung ermöglicht genau solche Freiheiten. Wobei es immer noch eines umsichtigen und bedachten Umgangs mit diesen Freiheiten bedarf.
Das zweite große Problem bei der Stoffvermittlung ist das Verständnis. Ich kann mich für meine Universitätszeit an viele Momente erinnern, in denen ich gern einmal die Pausetaste am Dozenten gedrückt hätte, um in Ruhe darüber nachzudenken, was er gerade gesagt hat. Mit der Videoaufzeichnung haben Schüler die Möglichkeit, sich im Nachgang die komplizierten Teile des Unterrichts noch einmal in Ruhe und mit Pause anzusehen.
Das gemeinschaftliche Skript führt aber auch schon im Unterricht dazu, dass alle Schüler außer den Skriptverantwortlichen sich stärker auf den Unterricht konzentrieren und mitarbeiten können. Die Interaktion und die Aufmerksamkeit im Unterricht sollte sich damit wesentlich verändern, weil nicht mehr das Abschreiben den Raum einnimmt, sondern die Aufmerksamkeit den Freiraum nutzen kann.
Dennoch bleibt die Mitschrift auch nur ein Teil des Unterrichts. Individuelle Aufgaben, Üben, Recherchieren und Lesen müssen die Stoffvermittlung ergänzen, da Schule nicht den Charakter wie Universitätsvorlesungen bekommen darf.