Im Folgenden möchte ich der Frage nachgehen, inwieweit Schule sich mit der Digitalisierung beschäftigen sollte und welche Veränderungen dies mit sich bringen könnte. Doch am Anfang eine Charakterisierung der Begriffe Digitalisierung und Schule.

Digitaltechnik als Werkzeug

Zuerst zum – meiner Meinung nach – unerheblichen Wesen der Digitalisierung.

Der Mensch hat seit Urzeiten versucht, mithilfe von Werkzeugen die seinem Wesen anhaftenden Mängel zu kompensieren und seine Fähigkeiten über die ihm von der Natur auferlegten Grenzen hinaus zu erweitern. Angefangen hat dies mit dem Feuer, das es dem Menschen erlaubte, Speisen zu verdauen, die roh für seinen Magen ungenießbar waren. Mit Pfeil und Bogen wurde es ihm möglich, Tiere zu erlegen, die er mit bloßen Händen nicht hätte töten können. Die Tierfelle wiederum boten ihm einen besseren Schutz gegen Kälte und Regen als seine eigene Haut, wodurch er dann an Orten überleben konnte, die er ohne dieses Werkzeug nicht hätte besiedeln können. Es kamen Sprache und Schrift als Erweiterung seines Gehirns hinzu, womit der Mensch Gedanken und Wissen weitergeben konnte und dies sogar über Generationen hinweg – eine Leistung, die ohne diese Hilfsmittel nicht möglich war.

Durch alle Epochen der Zeit lässt sich streifen und man findet Beispiele dafür, wie der Mensch versucht hat, Ziele zu erreichen, die außerhalb seiner natürlichen Grenzen liegen. So war es eben auch im 18. Jahrhundert die Dampfmaschine, die die menschliche Muskelkraft um ein Vielfaches übertraf, oder im 19. Jahrhundert die Elektrizität, die es unter anderem den Augen ermöglichte, bei Nacht so gut wie bei Tage zu sehen. Und Elektrizität brachte auch die Möglichkeit mit sich, Sprache und Informationen in einer Geschwindigkeit über große Distanzen zu transportieren, zu denen die menschliche Stimme nicht fähig ist.

Weil es auch sehr vorteilhaft ist, wenn Dinge handlich und klein sind, auch wenn sie gleichzeitig sehr leistungsfähig sind, ist die Technik immer weiter geschrumpft, sodass wir heute in der Hosentasche ein Rechenwerk unterbringen können, für dessen Leistung vor 200 Jahren noch Amtsstuben voller Mathematiker notwendig waren, sofern überhaupt ihre Gehirne eine solche Leistung aufbringen konnten.

Der Mensch hat also schon immer danach gestrebt, sich seiner Umwelt so gut wie möglich habhaft zu werden, um sich ein angenehmeres und sorgenfreieres Leben zu gestalten. An diesem Punkt ist gerade die Digitaltechnik der Gipfel der Errungenschaften. Aber gewiss auch nur für den Moment, denn der »Faulheitsdrang« des Menschen wird nicht so schnell faul werden.

Digitaltechnik ist für uns heute so neu wie die Eisenbahn, die Fotografie oder das Grammophon zu den damaligen Zeiten und wird sich genauso wie die alten Techniken mit der Zeit zur Normalität entwickeln. Vielfach wirkt sie gegenwärtig wie eine erdrückende Last, da vor allem durch die konsequente Strukturierung und Automatisierung die Digitaltechnik zu einer immer höheren Arbeitsgeschwindigkeit beiträgt. Aber sie bleibt ein Werkzeug des Menschen und genauso wie bei einem Küchenmesser kommt es auf den Gebrauch an: Nutzen wir das Messer als Werkzeug zur Zubereitung von Speisen, um die Schärfe unserer Zähne zu übertreffen, oder nutzen wir es als Werkzeug für einen Mord.

Durch die Art, wie wir Werkzeuge gebrauchen, entscheiden wir darüber, ob sie uns zum Vorteil oder zum Nachteil dienen – Werkzeuge per se ermöglichen beides. In diesem Sinne kommt es auch bei der Digitalisierung darauf an, dass wir die Technik sinnvoll für nützliche Zwecke einsetzen und uns nicht zu Getriebenen der Technik werden lassen.

Digitalisierung als Buchdruck 2.0

Die Digitaltechnik nur als ein Werkzeug zu betrachten, greift aber bei genau dieser Errungenschaft zu kurz. Denn das, was – meiner Meinung nach – die wesentliche Veränderung ist, die mit der Digitaltechnik einhergeht, ist das Erstarken der abstrakten, immateriellen Welt.

Schon immer gibt es für uns Menschen die zwei Welten der inneren und äußeren Wahrnehmung: die Gedanken im Kopf und die mit den Sinnen erfahrbare Umwelt. In unserer Umwelt können wir Objekte greifen, sie ansehen, bewegen und verändern. Über Jahrtausende hinweg haben wir den Umgang mit der materiellen Welt erlernt und eine Intuition für die Vorgänge in ihr entwickelt.

Die Welt der Gedanken, Ideen und Träume gehört zwar auch von Anbeginn zum Menschen, aber sie unterscheidet sich von der realen Welt dadurch, dass ihre Elemente nicht sichtbar und nicht greifbar sind, weil sie eben keine Substanz besitzen – keiner kann in des anderen Kopf blicken oder ihm Wissen hinzufügen oder entnehmen. Und gerade diese immaterielle Welt der Informationen erfährt durch die Digitalisierung eine riesige Verbreitung.

Der Großteil der Werkzeuge, die der Mensch zuvor geschaffen hat, haben seine physische Leistungsfähigkeit erweitert. Mit der Digitalisierung erfährt aber vor allem die geistige Leistungsfähigkeit eine Erweiterung. Nicht mehr Muskelkraft, Tastsinn oder Sehfähigkeit werden erweitert, sondern die Fähigkeit Wissen zu speichern, Aufgaben zu berechnen und Informationen zu generieren und zu transportieren. Als Vergleich ließe sich die Digitalisierung als Buchdruck 2.0 verstehen, denn auch die Erfindung und Verbreitung des Buchdrucks hat zu einer regelrechten Informationsflut geführt, bei der das Wissen auf Papier massenhaft verfügbar wurde.

Doch gerade dieser – meiner Ansicht nach – verkannte Wandel birgt die größte Herausforderung. Wir müssen erst lernen, mit dieser neuen Welt umzugehen und eine Intuition dafür entwickeln, denn Daten verhalten sich anders als Gegenstände, wie ich an vier Punkten erläutern möchte: ⑴ Die Kopie einer Fotografie oder einer Kassette weist Unterschiede zum Original auf, die auch von Mal zu Mal deutlicher werden. Wenn hingegen ein Bild oder ein Lied auf einem Computer oder auch quer durchs Internet kopiert wird, ist am Ende das Ergebnis identisch – Original und Kopie sind nicht zu unterscheiden. Daten lassen sich beliebig oft exakt reproduzieren, was uns an vielen Stellen neue Möglichkeiten bietet, aber auch neue Lösungen abfordert. Echtheit und Vertraulichkeit sind zum Beispiel für digitale Daten ganz anders als für Worte auf Papier zu bewerten und gewährleisten.

⑵ Für die Welt der Daten fehlt uns die sinnliche Wahrnehmung: Ein USB-Stick mit einem Gigabyte an Daten ist optisch genauso groß und wiegt genauso viel wie ein USB-Stick mit dem Hundertfachen an Daten. Mit keinem unserer Sinnesorgane können wir den Umfang dieser beiden Datenmengen erfassen, was zum Teil bei einem Buch noch möglich war. Genauso raubt uns die digitale Welt jeglichen Sinn für die Entfernung: Ob ein Bild von einem Server von nebenan oder vom anderen Ende der Welt geladen wird, können wir nur durch technische Hilfsmittel bestimmen, und es geht sogar so weit, dass unsere Wahrnehmung für die Zeit uns in die Irre führen kann, weil das Bild von nebenan durch technische Effekte spürbar langsamer geladen wird als das Bild vom weit entfernten Server.

⑶ Als ein weiteres Beispiel für das ungewohnte Verhalten virtueller Objekte sei folgende Situation geschildert: Wenn jemand zwei Blätter Papier vor sich liegen hat, auf einem ein Wort schreibt und er dasselbe Wort in derselben Schreibweise zeitgleich auf dem zweiten Blatt Papier erscheinen sieht, würde man ihn im besten Fall als einen Menschen mit einer lebhaften Fantasie bezeichnen. In der digitalen Welt ist dieses Phänomen aber völlig normal: Die Zeichen, die man an einem Laptop eintippt, erscheinen sofort am anderen Ende der Welt auf dem Bildschirm – und nicht nur dort, sondern auf vielen anderen Bildschirmen auch. Die Dimensionen der Sichtbarkeit und der Verfügbarkeit – bezogen auf Entfernung und Zeit – sind in der virtuellen Welt wesentlich größer als in der realen Welt. Als kleine Veranschaulichung der Konsequenzen sei an die berühmten Facebook-Partys erinnert.

⑷ Es gibt den schönen und verwirrenden Spruch »Glück kann man verdoppeln, indem man es teilt« – das immaterielle Gut Glück lässt sich also vermehren, indem man es vermindert. Eine Eigenschaft, die wir in der realen Welt nicht finden, weshalb dieser Spruch auch so irritiert. Aber in der immateriellen Welt lässt sich der Nutzen von Daten – seien es Texte, Bilder oder Programme – gerade dadurch steigern, dass man sie anderen zur Verfügung stellt. Oder wie es Augustinus von Hippo bereits vor über 1500 Jahren formulierte: »Denn jede Sache, die durch Weitergabe an andere nicht verliert, besitzt man noch nicht, wie man soll, solange sie nur besessen und nicht weitergegeben wird.« Diese Denkweise fällt uns von der materiellen Welt geprägten Menschen besonders schwer.

Unsere größte Herausforderung mit der Digitalisierung sind also nicht die neuen Geräte, deren Bedienung wir erlernen müssen, sondern die Möglichkeiten und die Welt, die durch diese neuen Geräte entstehen. Der empfundenen Bedrohung durch die Digitalisierung liegt vielmehr die Ungewissheit beim Betreten des Neulands zugrunde, denn welche Schwierigkeiten und Ängste das Schwinden der Sinne hervorruft, können wir uns am Beispiel der Krankheit Demenz verdeutlichen. Unserer gesamten Gesellschaft steht ein großer Wandlungs- und Lernprozess bevor.

Schule als weiteres Elternhaus

Womit wir der Rolle der Schule bei diesem Wandel näher kommen. Doch zuerst die Frage nach der Bedeutung der Schule.

Ein Mensch lernt von Geburt an unbewusst und ungezwungen durch die Reize, die seine Umwelt ihm bietet. Als erster Impulsgeber für ein Kind wirkt sein natürliches Umfeld und somit die Eltern, die es bei den ersten Schritten im Leben begleiten und ihm auch in vielen Folgejahren wichtige Dinge für das spätere Leben zeigen.

Da eine vielfältige Bildung ein vielfältiges Angebot erfordert, liegt es strukturell auf der Hand, Kindern weitere Teile der Welt im Rahmen der Schule zu zeigen – denn wer hat schon ein Skelett, ein Chemielabor oder den Platz zum Kugelstoßen bei sich daheim? Auch in puncto Wissen kann Schule durch die spezialisierten Lehrer ein wesentlich breitgefächerteres und tiefgehenderes Angebot bieten als ein individueller Haushalt.

Eltern und Schule, aber genauso Vereine, eine persönliche Clique oder Massenmedien sind die Anreizgeber, die Kindern einen spezifischen Blick auf einen Teil der Welt gewähren und wovon Kinder lernen können – denn ein wachsamer Geist, dem die Neugier und die Freude am Lernen nicht verübelt wurden, entdeckt überall Lehrreiches.

Für Eltern und Schule sollte das Ziel dabei sein, den Kindern bestmöglich die Vielfalt der Welt zu zeigen und sie auf ihr künftiges Leben vorzubereiten. Eltern natürlich mit dem Schwerpunkt ihrer individuellen Sicht, die Schule mit dem Schwerpunkt der gesellschaftlichen Sicht, aber beide mit dem Ziel das Kind bestmöglich in die Welt zu führen und ihm ein selbstständiges, mündiges Leben zu ermöglichen.

Nur leider hat sich mit der Digitalisierung der Blick in die Zukunft vernebelt und anders als noch zur Jahrtausendwende können wir heute nicht mehr mit der damaligen Gewissheit sagen, welches spezielle Können und Wissen in zwanzig Jahren hilfreich seien wird. Es stellt sich also umso mehr die Frage »Was sollen Eltern oder die Schule den Kindern mitgeben?«

Sicher ist, dass in Zukunft reines Faktenwissen nicht mehr so bedeutend wie heute seien wird. Ein umfangreiches Wissen wird zwar weiterhin von Vorteil sein, aber die notwendigen Details wird man sich in Zukunft immer wieder bei Bedarf aneignen oder greift auf die Möglichkeiten der Technik zurück.

Wenn das Expertenwissen also von Computern übernommen wird, dann wird der alte Universalgelehrte, der vielfältige Themen und Methoden kannte und sie bereichsübergreifend anzuwenden wusste – heute würde man auch interdisziplinäres Denken dazu sagen –, wieder ein gutes Leitbild für die Zukunft. Jeder Mensch wird weiterhin eine Spezialisierung beherrschen – so gesehen, sein Talent entwickeln –, darüber hinaus wird aber viel stärker die Fähigkeit zum freien und ganzheitlichen Denken gefordert seien. Wer daher heute noch Kinder stumpf mit Fakten und Algorithmen befüllen will, dem sei eher zu einem Computer geraten, denn dieser leistet bei weitem weniger Widerwillen.

Die Unterrichtsinhalte sollten eher von einem hypothetischen Standpunkt des Schülers in zwanzig Jahren ausgehen und durch die Frage »Wofür brauche ich das im späteren Leben?« geleitet sein. Themengebiete sollten sich viel öfter von einer konkreten Frage des Alltagslebens aus entfalten und auf einer expeditionshaften Suche von einem Neugierigen »Was ist das?« oder »Warum ist das so?« aus hin zu einer Antwort durchquert werden, an die dann die theoretischen Grundlagen anknüpfen. Der Lehrer kann durch seine Kenntnisse die Suche so geeignet steuern, dass sie nicht in tiefe Abgründe führt, aber dennoch den Entdeckergeist schult. Und sollte es auch einmal für den Lehrer in unbekannte Gefilde gehen, so kann dieser die Schüler Dank seiner Erfahrung immer noch als hilfreicher Expeditionsführer begleiten.

Dieses Bild einer Expedition durch den Dschungel des Lebens umreißt sehr schön, welche Fähigkeiten in Zukunft gefordert seien werden, denn wir werden uns noch lange Zeit im Neuland aufhalten, bis wir das Wirrwarr gelichtet, strukturiert und nutzbar gemacht haben. Deshalb sollte jeden Tag Lebensdschungelerkundung auf dem Stundenplan stehen, um sich im späteren Leben nicht wie im Dickicht eines Urwalds zu verirren. Neben der Orientierung ist für eine Expedition auch der Wille zum Finden eines Weges wichtig – also eine gewisse Leidenschaft für die Suche –, womit sich ein schöner Bogen von der Zukunft zum alten Heraklit schlagen lässt: »Bildung ist nicht das Befüllen von Fässern, sondern das Entzünden von Flammen.«

Mathematik für abstraktes Denken

Das konkrete Wissen, dass der Sinus von dreißig Grad einhalb beträgt, wird im späteren Leben nicht viel nützen. Aber daraus, dass man es einmal in der Schule gesehen hat, wird man einen Nutzen ziehen können – denn zur Erinnerung: Es wird vielfältiges und ganzheitliches Denken wichtig werden.

Da ich selbst Mathematiker bin, fällt es mir leichter, anhand der Mathematik zu erläutern, warum die bisherigen Schulfächer eine sehr gute Grundlage fürs Leben liefern – man muss nur etwas den Blick darauf verändern.

Mathematik ist kein sonderlich beliebtes Fach, weil es sehr trocken und weltfremd daherkommt. Wenn man aber diese Weltfremde einmal zum Ziel erklärt, dann zeigt Mathematik plötzlich ein ganz anderes Gesicht. Denn von einer anderen fremden Welt sprach ich bereits bei der Digitalisierung: Das, was die Mathematik und das Internet teilen, ist die abstrakte Welt virtueller bzw. immaterieller Objekte.

Und eigentlich ist auch heute schon unsere Welt voller abstrakter, nicht konkreter Aussagen. Unsere Gesetzestexte sind beispielsweise nicht in einer Art wie dieser formuliert: »Wenn Rita Müller am 5. August an der Ampel im Eckweg bei Rot über die Straße geht, dann ist eine Strafe von 50 € zu verhängen.« Nein, das Gesetz lautet eher: »Wenn eine Person bei roter Ampel eine Straße überquert, dann …« Bereits damit wurde eine abstrakte Welt geschaffen, weil es namenlose, unkonkrete Personen, Orte und Momente sind. Ein Mathematiker würde dann nur noch weiter gehen und sich für die Handlung ein lustiges Symbol überlegen und Orte mit griechischen Buchstaben bezeichnen, sodass am Ende vielleicht dort stände »A Kringel Alpha Pfeil 50 €«. Aber diese Darstellung ist nicht so weit weg vom Gesetzestext – übrigens: eine ideale Vorlage zur Digitalisierung.

Im Mathematikunterricht lässt sich also wunderbar zum einen der Übergang zwischen der realen und der abstrakten Welt und zum anderen das Bewegen in der abstrakten Welt erlernen. Dazu zählen unter anderem die Fähigkeit, wesentliche und unwesentliche Informationen zu unterscheiden – nebenbei: dies ist auch hilfreich für Suchanfragen –, das Entwickeln von Lösungsstrategien und Schlussfolgern anhand bestimmter Regeln. Im Grunde war Mathematik schon früher eine abstrakte Welt, wie sie uns heute mit der Digitaltechnik allgegenwärtig begleitet, nur wurde sie nie als solche betrachtet und ein viel zu ungünstiger Zugang gewählt.

Auch für die Mathematik ist vielfältiges Üben eine wichtige Methode. Um den Umgang mit der abstrakten Welt erlernen zu können, genügt es nicht, einen einzigen Fall zu betrachten, sondern es bedarf mehrerer, unterschiedlicher Beispiele um den Vorgang des Abstrahierens und das abstrakte Denkvermögen zu schulen. Darum werden die Schüler jahrein, jahraus mit wilden Gleichungen und verwinkelten Aufgaben konfrontiert, um immer mehr diese Fähigkeiten zu erlernen und zu verfeinern.

So ist auch meine zuvor angeführte Aussage zu verstehen: Der Sinus von dreißig Grad ist genau ein solcher Einzelfall, der im späteren Leben kaum Relevanz haben wird. Aber die Fähigkeit, eine Funktion zu erkennen und sie mit einem konkreten Wert berechnen zu können, wird im späteren Leben von Nutzen sein. Diese vielen, vermeintlich sinnlosen Dinge, die man im Mathematikunterricht lernt, dienen dem höheren Ziel mit abstrakten Welten umgehen zu können. Wer früher sich schon in der Mathematik wohlgefühlt hat, fühlt sich im Internet erst recht wie daheim.

Natürlich gehören auch die Grundlagen der Mathematik, das eigentliche Rechnen, zu den primären Kenntnissen, die im Mathematikunterricht vermittelt werden müssen. Aber auch dabei gibt es eine zweite Ebene darüber: Wenn die Schüler Stück für Stück immer kompliziertere Aufgaben lösen müssen, soll in ihnen auch das Gefühl reifen, dass sie sich von solchen Monstern nicht abschrecken lassen brauchen und mit ein wenig Denkleistung auch diese Dinger knacken können. Wenn sie dann später im Leben im Vertrag für eine Lebensversicherung auf eine komplizierte Berechnungsvorschrift stoßen, sollen sie nicht ehrfürchtig davor zurückschrecken, sondern der Gedanke »ach, solch' Dinger habe ich schon als kleines Kind in der Schule gelöst« sollte sie leiten.

Mathematik kann und vor allem sollte auch Mut und Vertrauen vermitteln, eben diesen Willen zur Wegsuche durch den Lebensdschungel.

Deutsch für die Schönheit der Welt

Mit dem Deutschunterricht ist es ähnlich. Wer kann mit vierzig noch eines der Gedichte aufsagen, die er in der Schulzeit lernen musste? Oder die vielen Bücher, die man lesen musste? Was ist von diesen primären Unterrichtsinhalten geblieben? Meist nichts … außer den sekundären Fähigkeiten, die man dabei erlernt hat: Unser Gehirn ist ähnlich einem Muskel und entwickelt sich durch Herausforderungen. Die Gedichte sind nicht geblieben, aber sie waren der Stoff zum Training des Gedächtnisses.

Genauso sind fürchterlich komplizierte Texte mit Schachtelsätzen, an deren Ende man noch einmal den Anfang lesen muss, nichts aus der realen Welt, aber sie schulen die Fähigkeit, abstrakte Bezüge herzustellen und sich Informationen zu merken.

Ebenso ist das Sprachgefühl oder die Ausdrucksfähigkeit nichts, das man bewusst erlernen kann. Wie so manch computergenerierter Text zeigt, gehört mehr als das orthografisch korrekte Aneinanderfügen von Worten zum Verfassen eines guten Textes – eine Fähigkeit, die sich erst mit jahrelanger Übung einstellt, auch wenn die ursprünglichen Texte dann in Vergessenheit geraten sind.

Und selbst die Technik zum Erschließen des Inhalts eines Textes muss geübt werden. Wie viele Leute verzweifeln heute an einem Arbeits- oder Mietvertrag, weil sie die Fähigkeiten der Textanalyse und das Erarbeiten des Textverständnisses nicht beherrschen? Leider tauchen solche komplizierten Texte im späteren Leben immer wieder auf und wer nicht gelernt hat, damit umzugehen, kann oft nur unterschreiben, ohne zu verstehen, was er unterschreibt.

Aber neben all diesen fast technischen Fähigkeiten kann der Deutschunterricht noch eine wesentlich wichtigere Fähigkeit fürs Leben vermitteln, denn er arbeitet mit dem vielleicht mächtigsten Werkzeug des Menschen. Wie ich bereits im Rahmen der Digitalisierung als Werkzeug erläutert habe, nutzt der Mensch die Sprache, um Beobachtungen, Gedanken, Ideen und Empfindungen weiterzugeben. Anders als die Sprache der Mathematik vermag die natürliche Sprache die Schönheit und den Zauber der Welt zu offenbaren, ohne dass man all die vielen Erlebnisse gemacht oder Orte bereist haben muss.

Der Deutschunterricht kann auf solch angenehme Weise die Fähigkeit schulen, die Vielfalt und Eleganz der Welt zu erkennen – es muss nur bewusst zum Gegenstand des Unterrichts erklärt werden. Ein Gedicht Goethes zu lesen, mag gewisse Empfindungen bei den Schülern hervorrufen. Aber die fehlenden Erfahrungen aufgrund des Alters lassen die Kraft der Texte verblassen. An dieser Stelle kann aber der Lehrer die Brücke zur realen Welt bauen und die Bilder im Kopf – vielleicht mithilfe der Digitaltechnik – zum Strahlen bringen.

So verträumt es auch klingt, aber die Fähigkeit Schönes zu erkennen, muss trainiert werden, um sich im späteren Leben die schönen Momente nicht durch fortwährenden Konsum schaffen zu müssen oder wie ein abgestumpfter Roboter durchs Leben zu gehen.

Sport für die Selbstwahrnehmung

Für den Sportunterricht ist das Training für die körperliche Fitness im späteren Leben vielleicht am leichtesten zu erkennen. Aber auch der Sportunterricht kann sekundäre Fähigkeiten vermitteln, indem er die Schüler immer wieder ihre körperlichen Grenzen spüren und auch überwinden lässt. Leider zählen beim Sport zu oft nur absolute Werte, an denen viele Schüler scheitern. Aber genau mit den Lernzielen Grenzerfahrung und Grenzüberwindung, könnte der Unterricht eine Form bekommen, die den individuellen Fähigkeiten der Schüler gerecht wird.

Eventuell finden auf diese Weise auch Muskelentspannung, Meditation und ähnliche Techniken Einzug in den Unterricht, denn die Körperwahrnehmung ist für das spätere Leben in puncto Gesundheit sehr wichtig und die Fähigkeit zur Ruhe zu finden, hilft bei einem Turnier genauso wie im späteren Berufsleben.

Selbst Tanzen könnte zur Schulung der Koordinationsfähigkeit Bestandteil des Sportunterrichts seien, denn die abstrakte Abfolge der Schritte im Rhythmus der Musik in Bewegungen umzusetzen, schult die Körperbeherrschung. Sport kann also über das klassische Muskeltraining hinaus gedacht werden und selbst Fragen der Sportmedizin oder gezielte Übungen für die körperliche Fitness im Alltag könnten Gegenstand des Unterrichts sein.

Schule und Digitalisierung

Dies waren nun drei Beispiele, die hoffentlich vermittelt haben, dass wir die Schule nicht einreißen und neu errichten müssen. Damit sich die Schule besser an den Bedürfnissen für die Zukunft ausrichtet, muss nur etwas der Blickwinkel auf die Unterrichtsinhalte verändert werden, um sich besser den zwei Fragen widmen zu können:

  1. »Wofür braucht ein Schüler dies im späteren Leben?« und
  2. »Was ist die eigentliche Fähigkeit (die sekundäre Kompetenz), die mit dem Stoff vermittelt werden soll?«

Und diese Antworten müssen auch den Schülern gegeben werden und ihnen muss vermittelt werden, worum es in der Schule und allgemein bei Bildung geht. Denn über all dem steht das große Ziel: »Die Kinder bestmöglich in ein selbstständiges und mündiges Leben zu führen.«

Schule soll sich nicht der Digitalisierung wegen ändern, sondern sie muss sich ändern, weil die Digitalisierung das Leben verändert. Die Schule muss auf das immer vielfältigere Leben voller Ungewissheiten und ständigem Wandel vorbereiten, indem sie den Schülern im kleinen, behüteten Rahmen einen Blick auf diesen Ausschnitt der Welt gewährt und ihnen ermöglicht, damit Erfahrungen zu sammeln.

Dabei kann Digitaltechnik eine wertvolle Unterstützung leisten, um die Unterrichtsinhalte besser an den Möglichkeiten und Bedürfnissen der Schüler auszurichten. Durch eine sanfte Integration in den Unterricht kann die Schule realitätsnah die Erfahrung der neuen Technik quer durch alle Unterrichtsfächer bieten.

So mysteriös uns die neue Technik heute noch erscheint, sie ist und bleibt aber ein Werkzeug, über das wir – und später eben auch die Schüler – entscheiden müssen und das nicht über uns entscheidet. Gerade der souveräne Umgang damit erfordert regelmäßige Übung und Nutzung, denn wir sind Menschen, die durch Übung lernen und sich nicht wie Computer programmieren lassen. Die tägliche Zeit in der Schule ist also ideal dazu geeignet, einen reflektierten und selbstbestimmten Umgang mit der Technik zu erlernen.

Um es aber noch einmal deutlich zu sagen: Digitalisierung bedeutet nicht, alles unter Strom zu setzen, indem all die Dinge, die zuvor mit Zettel und Stift getan wurden, jetzt plötzlich mit dem Computer getan werden. Auch geht es nicht darum, die Expertensoftware mit den meisten Funktionen einzusetzen. Solcher Eifer untergräbt viel öfter die Souveränität und ist der Weg in die Abhängigkeit. Besser wäre es, unterschiedliche Programme und Möglichkeiten auszuprobieren und gegenüberzustellen, um eben die Vielfalt an Reizen für breitgefächerte Kenntnisse zu bieten.

Wer bisher Aufgaben gut mit den alten Werkzeugen lösen konnte, soll dies auch weiterhin tun. Auch wenn gerade die Hammerpropheten durchs Land ziehen, sollten wir nicht unsere Werkzeugkästen ausschütten und alle Probleme als Nägel betrachten, nur damit wir sie mit einem Hammer bearbeiten können. Und dennoch lohnt der Blick in den Werkzeugkasten, denn so manches alte Utensil kann durch die neue Technik ersetzt werden, um Aufgaben leichter und zeitgemäßer zu lösen – sodass die Technik hilft und einen Nutzen entfaltet.

Der Schritt in die digitale Welt ist nicht groß. Man muss sich nur von der Angst befreien, man sei erst im Zentrum angekommen. Denn die Wahrheit ist, diese Expedition endet nie.

Zusatz

Am Bild der Dschungelexpedition lässt sich auch gut eine weitere, wichtige Eigenschaft für das zukünftige Leben erläutern: der Umgang mit Fehlern. Im Dickicht des Urwalds ist nicht immer klar, welche Richtung einzuschlagen ist und so mancher Weg wird sich als Irrweg herausstellen. Die Situation selbst bedingt es, dass Fehler passieren und deshalb sind Fehler unvermeidbar.

Dies zu verstehen und zu akzeptieren, ist ein wichtiger Schritt, denn wer in der ewigen Illusion verharrt, nur keinen Fehler zu begehen, wird sich in Anbetracht der Komplexität der digitalen Welt keinen Schritt vorwärts wagen und am Ende wenig oder gar nicht vorankommen.

Die digitale Welt erlaubt es viel lockerer mit Fehlern umzugehen, weil sie leichter zu verbessern sind als in der realen Welt. Fehler zu machen, ist daher nicht verwerflich, nur sollte man Fehler nicht wiederholen. Die Akzeptanz von Fehlern sollte dahin führen, dass sie nicht als erdrückende Schande wahrgenommen werden, sondern als ein ungünstiger Zustand, der sich aber genauso wie alle anderen Zustände verändern lässt. Eine gute Fehlerkultur denkt daher von Anfang an mit an die risikobehafteten Ereignisse und lässt die Freiheit für einen Plan B zu, um im Fall der Fälle die Richtung ändern und den Weg fortsetzen zu können.

Zur Fehlerkultur gehört aber auch das Erkennen von Fehlern, also immer wieder die skeptische Reflexion über den aktuellen Zustand. Im Mathematikunterricht lässt sich dies zum Beispiel gut üben, indem Schüler Berechnungen mit Fehlern gestellt bekommen und die Fehler finden müssen. So sind sie gezwungen, über die vorliegenden Schritte nachzudenken und sie mit dem Schema in ihrem Kopf abzugleichen. Ebenso ist im Deutschunterricht die Korrektur eines Textes oder als Hausaufgabe die Fehlersuche in der Tageszeitung geeignet.

Die Möglichkeit von Fehlern oder unvollständigem Wissen wirkt sich auch noch in anderer Form auf das Verhältnis von Lehrern und Schülern aus. Auch Lehrer sind in Anbetracht der Komplexität der Unterrichtsinhalte nicht mehr davor gefeit, Fehler zu begehen und dass die Schüler diese Dank der neuen Technik auch aufdecken. Der Lehrer kann also nicht mehr die strahlend unfehlbare Leitfigur sein, sondern ist als Expeditionsführer auf der gleichen Ebene wie die Expeditionsgruppe; eine Konstellation, die Schülern den nötigen Respekt, und Lehrern die nötige Gelassenheit abfordert.

Definition von Digitalisierung

Es kam die Frage, wie ich denn nun Digitalisierung genau verstehen würde. Wenn ich es also in eine Definition fassen soll, dann würde ich es so beschreiben: Im engen Sinne ist Digitalisierung der Prozess des Übergangs von der realen, materiellen Welt in die virtuelle, immaterielle Welt; etwas wird digitalisiert heißt, es wird in die virtuelle Welt übertragen (am besten nicht mit der Identitätsfunktion 😉). Etwas weiter gefasst, würde ich Digitalisierung als das Agieren und Handeln in einer virtuellen, immateriellen Welt sehen. Deshalb sehe ich Digitalisierung auch nicht an Digitaltechnik gebunden: mit Digitaltechnik ist man in einer abstrakten Welt unterwegs, aber die Vorgänge und Elemente der abstrakten Welt lassen sich auch mit anderen Mitteln (z. B. durch reines Denken) erleben.