Ich hatte von jemandem den Text »Le grand déclassement«[^](Gelesen habe ich ihn nur mit der Hilfe von Deepl, weil mein Französisch für den Text absolut nicht ausreicht.) empfohlen bekommen. Zusammengefasst wirf der Autor die Frage auf, was passiert, denn die Masse der Arbeiter begreift, dass sie in Zukunft nicht mehr benötigt werden, insbesondere wenn die bildungsnahe Schicht bemerkt, dass die Erzählung vom Aufstieg durch Bildung nicht (mehr) stimmt und all die Investitionen in das kulturelle Kapital an Wert verlieren.

Jedoch begeht der Autor meiner Meinung nach den gleichen Fehler wie all die Menschen, deren Erwachen er hinterfragt: Er sieht Bildung als Ausbildung für die Wirtschaft. Das Humanistische, dass Bildung eben auch den Charakter formt und dem Mensch beim Finden seines Platzes in der Welt helfen kann, kommt in dem Artikel zu kurz. Ganz deutlich zeigt sich dies meiner Meinung nach in dem Satz »Dennoch ist es für ein Bildungssystem schwierig, die Bedürfnisse einer Volkswirtschaft in fünf oder zehn Jahren zu planen« (Or il est difficile pour un système éducatif de planifier les besoins d’une économie à cinq ou dix ans — surtout si, comme après 1929, 2008 ou 2020, on sort d’une crise forcément imprévue.).

Auch wenn ich ihm in seinen Beobachtungen, dass die Fassade unserer Welt immer mehr Risse bekommt und bröckelt, und ihm in seinen Prognosen, dass es noch schlimmer wird, völlig zustimme, so würde ich ihm jedoch vehement in seiner Analyse der Umstände widersprechen. Der Mensch ist nicht wie ein »Videorecorder aus einer Überproduktion«, ein gebeuteltes Opfer, ein von bösen Mächten gezwungener Roboter – das stimmt nicht. Der Mensch ist ein handelndes Subjekt und daher auch zu anderem fähig. Diese Dystopie[^](Leider wird dieses Narrativ vom handlungsunfähigen Opfer gern genutzt, weil sie vermeintlich vom Handelsdruck befreit, denn Widerstand gegen die bösen Mächte™ ist aussichtslos.), dass ein Mensch ein Spielball seiner Umstände ist, trifft nur dann zu, wenn er es sich gefallen lässt, wenn er sich selbst zu diesem Spielball degradiert – und zu viele Menschen tun dies auch.

Der zentrale Fehler des gegenwärtigen Bildungssystems ist die Erziehung zu hörigen Menschen und nicht zu souveränen, freien Menschen. Es war schon zu meiner Zeit so und wenn ich es recht mitbekomme, ist es auch heute noch so. Kinder werden in der Schule immer noch zu den preußischen Befehlsempfängern – zu Office-Bedienern – und nicht zu mündigen Bürgern erzogen. Dies hat zum einen zwar den Vorteil, dass sie dem Staat und dem System gegenüber nicht aufmüpfig werden, aber eben gleichzeitig auch den eklatanten Nachteil, dass sie nicht gegen sich selbst aufbegehren und sich selbst kritisch hinterfragen und daher nie ihre wahren Bedürfnisse erkennen und befriedigen und fortwährend im Hamsterrad laufen, anstatt zur Ruhe zu kommen.

Die Menschen bleiben damit weiterhin ein Anhängsel und auf den Schutz und das Wohlwollen anderer angewiesen. Sie lösen sich so nie aus der natürlichen Abhängigkeit der Kindheit – es ist völlig normal, dass Kinder auf ihre Eltern angewiesen ist. Aber gerade die Pubertät ist die Zeit, in der sie aufbegehren, streiteen, sich widersetzen, diese Fesseln kappen und auf eigenen Füßen stehen sollten. Aber das System[^](dies ist eventuell in Deutschland besonders ausgeprägt, während Franzen eher zu Fakel und Mistgabel neigen) auf gesellschaftlicher Ebene und die Eltern auf individueller Ebene versuchen den Menschen das wollig warme Wohlfühlgefühl zu erhalten – »bloß nicht auf die Herdplatte fassen« zig Absperrungen und Verordnung müssen dies verhindern. Jeder bekommt regelmäßig sein Tellerchen hingestellt mit dem Spruch »iss brav auf, dann wird morgen schönes Wetter« – also der Verpflichtung gegenüber der Zukunft, die, ohne die fortgeschrittene (= geschulte) kognitive Fähigkeit über den Tellerrand hinaus zu denken, nicht geprüft werden kann – und dann konsumieren die Leute fleißig, damit es der Wirtschaft gut geht und sie morgen eine bessere Chance auf den sozialen Nichtabstieg haben. Ob die Menschen aber überhaupt Hunger haben, ob sie dessen, was sie da kaufen, überhaupt bedürfen oder, noch eins weiter, ob das Bedürfnis, das sie befriedigen, überhaupt das wahre Bedürfnis ist und es nachhaltig gestillt wird, all das hinterfragen sehr selten die Menschen, sondern sie essen brav das Tellerchen ab, so wie ihnen befohlen und wozu ihr innerer Trieb sie lenkt.

Genauso wie ein Kind irgendwann lernt, diese Geschichte mit dem leeren Teller und dem Wetter von morgen zu hinterfragen, und anfängt, sich an seinen eigenen Bedürfnissen zu orientieren, so müsste eigentlich auch die Menschheit in die Pubertät kommen und ihr tägliches Handeln hinterfragen und sich an ihren Bedürfnissen orientieren, also den tatsächlichen Hunger erkennen und nicht den großen Augen folgen, die den Teller voll und voller sehen wollen. An der Stelle spielt viel Selbstregulation, also die Fähigkeit seine Triebe zu kontrollieren, und Bewusstwerdung/Aufklärung, also der Reflexion über seine Bedürfnisse und sein Handeln, und vieles andere mit hinein … das nicht in der Schule gelehrt wird.

Fakt ist jedoch, dass die Schule keine mündigen Bürger hervorbringt, sondern einfach nur Bedürfnisse transformiert und aus kleinen große Abhängige macht. Aber – und da bin ich wieder bei meinem Widerspruch zur Analyse des Textes – der Mensch kann auch anders, der mündige, kritische Bürger ist möglich. Nur leider ist Mündigkeit aufwändiger als Abhängigkeit und daher spielen (zu) viele leider auch einfach dieses Spiel mit. Kindern kann man dieses nicht vorwerfen, ihnen fehlen naturgemäß die Erfahrungen und das Wissen. Aber das große Versäumnis der Schule ist es, dass sie genau diese Fähigkeit zum handelnden Subjekt, zum mündigen Bürger nicht lehrt. Manche bekommen dies von ihren Elternhaus gelehrt, viele müssen es sich (schwer) selbst erarbeiten, aber von den Möglichkeiten her ist der Mensch kein Sklave irgendwelcher bösen Mächte, die ihn in dieser Knechtschaft halten.

Aber, um die Lehrer und die Eltern mal etwas in Schutz zu nehmen: Wir stehen vor dem Dilemma, dass Einäugige (leider teils auch Taub-Blinde) den Blinden etwas von Farben erklären sollen. Insofern stecken wir wirklich in einer systemischen Zwickmühle, die nur langsam gelöst werden kann. Oder es passiert ganz im französischen Sinne mit einem Knall, was nicht unbedingt schön ist.

Die schulische Bildung darf sich nicht mehr an der Ökonomie orientieren, die alle paar Jahrzehnte die Anforderungen wechselt. Der große Fehler (Neoliberalismus) unserer Zeit ist es, alles der Ökonomie unterzuordnen, denn die ökonomischen Regeln funktionieren nur in einem Teil des Lebens und sind unbrauchbar in anderen (sozialen) Bereichen. Der Bildungsbegriff muss weg vom »Ausbilden für die Wirtschaft« und den Menschen und sein Leben in den Mittelpunkt stellen. Wichtig ist meiner Meinung nach die Formung des Charakters und nicht das Erlernen von Fertigkeiten wie Office-Bedienung.